Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Seit dem 24. September 2018 steht es wieder da, das Rad auf zwei Beinen oder Räuberrad. Frank Castorf, der von 1992 bis Sommer 2017 die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz prägte, ist jetzt der unsichtbare Dritte, der Verschwundene. 25 Jahre sind eine lange Zeit, ein Vierteljahrhundert. Das laufende Rad, im Gegensatz zum fliegenden, das die Eisenbahn symbolisiert, fasste die Zeit zusammen und brachte sie auf den Punkt. Zierte die TheaterFlyer.
Bert Neumann erfand das Rad neu: Das Rad auf zwei Beinen
Bert Neumann hatte das Speichenrad auf Beinen, das auf großen Füßen lebt, 1990 entworfen, im Jahr der Wiedervereinigung. Am 1. Juli wurde die D-Mark als offizielles Zahlungsmittel auch in Ost- und Mitteldeutschland eingeführt einschließlich Ost-Berlins, wo in Mitte, dem Bezirk Nummer 1 in der Zählung von 1920, dem Gründungsjahr Groß-Berlins, die Volksbühne steht. Am 3. Oktober wurde die Vereinigung, für manche die „Wiedervereinigung“, vollzogen durch Beitritt von fünf Bundesländern als Verwaltungsakt. 2018 wird der 28. Geburtstag mit einem Riesenfest begangen. Der 3.10.2018 ist ein Mittwoch. Seit Montag, dem 24.9.2018 steht das Räuberrad wieder da, als wäre nichts gewesen. Abschied und Entfernung dagegen ließen die Wogen hochschlagen. Manche meinte sogar, es sei Castorfs Rad oder er habe es geraubt. Oder nachdem Castorf Berlin beraubt wurde, wäre das Rad gleich mitgegangen.
Oder jemand hätte das Rad mitgehen lassen, irgendeine dunkle demokratische Institution. Nichts dergleichen. Die, die wenig wissen, spekulieren viel, urteilen schnell.
Der Bildhauer Rainer Haußmann baute das Rad auf zwei Beinen
Die Faktenlage ist natürlich anders, selten stimmen Legenden zu 100%. Die Senatskulturverwaltung hatte verlautbaren lassen, dass das „Rad, das der Schweizer Bildhauer Rainer Haußmann nach den Plänen Bert Neumanns gebaut hatte“, restauriert an den Rosa-Luxemburg-Platz zurückkehre. An der „Optik“ habe sich „nichts verändert“. „Nur die Statik wurde angepasst und die Füße erneuert.“ Wir übersehen jetzt einmal die Widersprüche der Mitteilung und erinnern uns ans Prinzip, an den Anfang. Bert Neumann hatte das recht einfache Rad mit sechs Speichen, das Rad auf zwei Beinen, 1990 für die Inszenierung der „Räuber“ durch Frank Castorf entworfen. Deswegen „Räuber“-Rad oder Räuberrad. Honi soit qui mal y pense, wer waren die Räuber? Die Politiker, die den später ehemaligen DDR-Bürgern die D-Mark schenkten, taten dies auf Kosten der westdeutschen Steuerzahler der Bundesrepublik. Trotz des Geschenks wurde vielen DDR-Bürgern am 3. Oktober ihre alte Identität geraubt. Für manche war das zuviel.
Wer sind die Räuber?
Ob alle, die in den 90ern auf Brandenburgs vielen schönen Alleen in den Tod fuhren, wirklich nur die Motoren der Westautos von Volkswagen, Audi und BMW nicht beherrschten? Auch im Zusammenhang mit der Treuhand denken viele an Raub und Räuber. Von verschiedenen Standpunkten aus. Am 1. April 1991 wurde die Treuhandanstalt ihres Präsidenten beraubt. Detlev Rohwedder wurde ermordet. Der oder die Täter sind bis heute unbekannt. US-amerikanische Investmentbanken waren nicht unglücklich über die Wirkung seines Todes. Bei der neuen Chefin ging alles viel schneller und Verkäufe waren mit weniger verbindlichen Verantwortlichkeiten für ausländische Investoren verbunden.
Ob Deutschland dabei seines östlichen Tafelsilbers beraubt wurde – zum Zeitpunkt der DM-Einführung am 1.7. 1990 waren 8500 Betriebe Volkseigentum und treuhänderisch verwaltet – oder nur viele Menschen ihrer Arbeit – mehr als 4 Millionen waren in den über 8000 VeBs tätig – ist wie so vieles Ansichtssache. Gras wächst über die Sache. So wie auf dem Rosa-Luxemburg-Platz.
„… die Menschen materiell und seelisch nicht unter die Räder kommen zu lassen.“
Detlev Rohwedder wurde am 10. April 1991 mit einem Staatsakt geehrt. Das ehemalige Reichsluftfahrtministerium Wilhelm- Ecke Leipziger Straße (jetzt Bundesfinanzministerium), in dem die Zentrale der Treuhandanstalt ihren Sitz hatte, wurde nach ihm benannt. Auch eine Straße in Duisburg, nicht weit vom Wohnort des gebürtigen Gothaers entfernt. Detlev Karsten Rohwedder wurde in seinem Düsseldorfer Haus erschossen. Durch das Fenster, aus über 60 Meter Entfernung.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker sagte über Rohwedders Wirken bei der Treuhand: „Kaum einer sah von Beginn an die Schwierigkeiten so deutlich wie Rohwedder. Ihm war das gewaltige Ausmaß der notwendigen Umstellungen mit ihrem Zeitbedarf und ihren tief einschneidenden sozialen Wirkungen vollkommen bewußt. Um so kraftvoller bemühte er sich darum, die Menschen materiell und seelisch nicht unter die Räder kommen zu lassen.“
Das eine Rad, für manche Symbol des rebellischen Theaters, das umso wichtiger wurde, wie die reiche Beschenkung der ehemaligen DDR-Bürger für viele in den Hintergrund rückte.
Der Streit ums Rad
In den Vordergrund geriet der Schmerz über Verlorenes, war dies nun gut oder schlecht gewesen. Als das Rad, das Lücken schloss, gar zum Symbol des Widerstands gerierte, selbst verschwinden wollte, gab es einen Aufstand. Eigentümer ist das Land Berlin. Frank Castorf wollte die Plastik partout zum Gastspiel beim Theaterfestival in Avignon mitnehmen und das passte nicht jedem. Nachfolger Chris Dercon war es egal, hatte es den Anschein gehabt. Lange blieb er nicht. Der Intendant schmiss im April das Handtuch, aktuell leitet Klaus Dörr das Haus kommissarisch. Dem Eigentümer Land Berlin hätte es nicht egal sein sollen. Doch gemeckert hatten Bert Neumanns Erben. Sie befürchteten einen Abriss gar und waren wohl auch deshalb mit dem Abbau nicht einverstanden.
Was jetzt passiert ist, ist nichts anderes als das in einem Kompromiss vereinbarte. Abbau – Castorf durfte zum Amtszeitende das Rad nach Avignon mitnehmen – Transport, Sanierung in Berlin, Aufbau am alten Standort.
Gutes Rad teuer
22.000 Mark hatte das Rad auf zwei Beinen gekostet, gut 11.248 Euro. Die Restaurierung war teurer als die Anschaffung. Verlautbart wurde, dass für „die Restauration Kosten in Höhe von ca. 25.000 Euro entstanden, die die Kulturverwaltung trägt“. Mehr als das Doppelte. Ans Bein gepinkelt haben die Hunde dem Rad. Deshalb der Austausch der Füße.
Rebellisches im Berliner Ensemble
Wirklich Rebellisches findet zurzeit wohl andernorts statt. In der Berliner Theaterlandschaft zum Beispiel das Stück „Auf der Straße“ im Berliner Ensemble. Ausverkaufte Vorstellungen, bestes Theater, erschütterte Besucher, die verändert wieder aus dem Kleinen Haus herauskommen. Das nächste Mal am 27. und 28. Oktober. Waren das Neue, die Wirkung, nicht einmal der Maßstab? Veränderung – Change? Karen Breece trifft den Nagel auf den Kopf und spart nicht mit Kritik. Sie trifft ins Herz und jeden anders, persönlich.
Das Rad der Geschichte dreht sich langsam. Langsam wie eine Laus.
Es scheint, dass das schwere Rad weitergelaufen ist. Weit ist es noch nicht gekommen, gerade mal zum Bertolt-Brecht-Platz am Schiffbauerdamm. Hier scheint es mit seiner Energie eine Weile verweilen zu wollen. Jocelyn B. Smith und die Different Voices tragen dazu bei und wirken an Karen Breece‘ Stück mit.
Das Rad der Geschichte dreht sich langsam. Langsam wie eine Laus.
Am Rosa-Luxemburg-Platz steht nur noch das Symbol. Die Energie ist weg.
Sie kann nicht verschwinden, das wissen wir. Der Energieerhaltungssatz. Wir erinnern uns.
Die Energie ist immer da, sie ist lediglich woanders
Die Energie ist woanders, verwandelt vielleicht, aber sie ist immer da.
Noch in Mitte, aber näher an der Friedrichstraße, näher an der Spree. Ein bisschen weiter westlich. Im Berliner Ensemble ist die Energie der Veränderung jetzt spürbar, „Auf der Straße.“
Im Theater. Jocelyn B. Smith mit Different Voices of Berlin im Brecht-Theater Berliner Ensemble