Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Ósmanns Leben um das Jahr 1900 im hohen Norden Islands ist von Verlusten gezeichnet, ausgewandert oder gestorben wird ständig.
„Die Menschen starben an Typhus oder weil sie Würmer hatten, sie ertranken in den Bezirkswassern oder erfroren draußen in den Schneestürmen, sie fielen von den Felsen und blieben in Sümpfen stecken, hackten sich Äxte in die Beine oder traten in rostige Nägel, was ihnen das Blut vergiftete.“
Jón Magnússon bringt als Fährmann mit einer Seilwinde Mensch und Vieh über den Ós, eine Flussmündung im Skagafjord. Joachim B. Schmidt erzählt in nicht chronologisch geordneten Kapiteln Episoden aus dem Leben des 1914 verstorbenen realen Fährmanns Jón Magnússon, genannt Ósmann. Unter den zusammenfassenden Kapitelüberschriften ist jeweils vermerkt, wie viele Winter Ósmann nunmehr überlebt hat.
Der nach Island ausgewanderten Schweizer Schmidt zeichnet das mit Hilfe seiner Urenkel und vor Ort recherchierte Leben Ósmanns als Menschenfreund, Robbenjäger, Liebender, Trinker und Poet nach. Ósmann pflegt in seiner Fährhütte eine offene Herberge, teilt Speisen und Getränke und wärmt so manchen Geretteten in seinen Robbenfellen. Sein verlustgeprägtes Freundschaftsgefühl geht über den Tod hinaus. Gleich zu Beginn des Romans findet der Fährmann einen schneeweißen Körper im schwarzen Sand, „in sich verschlungen, das Gesicht in den Armen vergraben, die langen braunen Haare um sich“ wie einen Heiligenschein. Ósmann nähert sich der Frau, ihr Anblick fährt ihm bis ins Mark, obwohl er Wasserleichen kennt.
„Auch Geister waren hier draußen keine Seltenheit, sie waren meistens im Dämmerlicht der späten Herbsttage oder im Zwielicht bewölkter Sommernächte unterwegs, sie mochten das Halblicht, standen oder saßen am Flussufer, dem sie wahrscheinlich entstiegen waren, huschten an Ósmann vorbei, streifen ihn manchmal mit ihrer feuchten Kleidung und hauchten ihm kalten Atem in den Nacken, standen einige Schritte von ihm entfernt und starrten ihn mit leeren Blicken an.“
Die junge Frau wird, nachdem Ósmann sie in seine Hütte getragen, gewärmt und gestärkt hat, wieder davonlaufen. Ihre Fußspuren führen in den Fluss zurück, das Robbenfell Ósmanns hat sie mitgenommen. Irgendwann wird es ihm leid, dass so viele fortgehen, die er liebte – unser stählern gesunder Fährmann möchte sich allmählich davonstehlen, im eigenen Namen verschwinden.
Ein poetischer Roman, der verzaubert! Isländischer, als von Isländern verfasst, archaisch und zutiefst human – eine Lektüre, die einen so schnell nicht wieder loslässt!
Bibliographische Angeben:
Joachim B. Schmidt, Ósmann, Roman, 288 Seiten, Bindung: fester Einband, Leinen, Verlag: Diogenes Verlag AG, Zürich, 1. Auflage 26.3.2025, ISBN: 978-3-257-07330-0, Preise: 25 EUR (Deutschland), 25,70 EUR (Österreich), 34 SFr
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