Sprachverlust als Drogenrausch – Ein weißrussischer Zukunftsroman als Groteske

"Mova" von Viktor Martinowitsch. © Voland & Quist

Berlin, Deutschland (Weltexpress). „Nimm dir mal eine Nation vor, zwinge ihr eine andere Sprache auf und verbiete den ursprünglichen Wortschatz komplett. Die Sprache, mit der eine Nation groß geworden ist. Die Worte, die deine Mutter dir an der Wiege gesungen hat. Dann lass eine neue Generation gänzlich ohne ihre Sprache geboren werden und erwachsen werden. Und verkaufe dieser heimat- und wurzellosen Generation dann kleine Schnipsel ihrer ureigenen Schriften, schwarz, unter Androhung von zehn Jahren Drogenknast. Da kommt der Kick ganz von selbst, wenn das Unterbewusstsein den Code erkennt, nach dem das Unterbewusstsein strukturiert ist.“

Ciotka, die schöne Anführerin der Unterwelt, erklärt dem Dealer die Wirkung der Droge „Mova“. Im gleichnamigen Roman des weißrussischen Autors Viktor Martinowitsch, erschienen in der großartigen Reihe Sonar bei Voland & Quist. Hier werden seit 2004 Romane und Erzählungen bislang unentdeckter literarischer Talente aus Osteuropa veröffentlicht, dazu zählten unter anderem Edo Popović, Olja Savičević und Andrej Nikolaidis. Sonar sorgt für eine Verbreitung gegenwärtiger literarischer Stimmen, die neben postsozialistischen Lebensgefühlen die Zerrissenheit wie Vielfalt unseres Kontinentes spiegeln. Voland & Quist gelingt es, die osteuropäische Literatur von den Rändern unserer Wahrnehmung an den Platz zu rücken, der ihr gebührt. Dafür sei dem Verlag gedankt!

Jetzt also Weißrussland in naher Zukunft – im Jahr 4741 chinesischer Zeitrechnung. Nach gregorianischem Kalender befinden wir uns im Jahr 2044. Martinowitsch entfaltet in seinem zweiten Roman einen Zukunfts-Alptraum auf 394 Seiten. Eine Provinzmetropole im Nordwesten des chinesisch-russischen Unionsstaates. Die rauscherzeugenden Mova-Briefchen gelangen trotz drakonischer Strafen immer wieder ins Land. Chinesische Triaden, belarussische Untergrundkämpfer und die staatliche Suchtmittelkontrolle sind in den Drogenkrieg verstrickt. Der Roman wechselt zwischen den Erzählsträngen eines Dealers und eines Junkies, die eine Person sein könnten, sich aber im Laufe der Handlung voneinander abspalten. Dem Sog, den dieser aberwitzige Roman entfaltet, kann man sich kaum entziehen. Auch wenn derzeitig geläufige Markennamen oder Referenzen zeitgenössischer Stars eingestreut sind, die plastische Schilderung einer chinesischen Triaden-Stadt in der Stadt der Zukunft ist atemberaubend (und kongenial mit feinen Zeichnungen ergänzt). Tumbe Schlägertypen, raffinierte Drogendealer, kluge, schöne Frauen, die mehrstöckigen Labyrinthe in Chinatown, irrlichternde Junkies, Wiesenfestivals, schnelle Autos und Motorräder – schon haben wir einen filmreifen Thriller-Plot. Und überall die Drogenpolizei. Ein popliterarisches Spiel mit Zitaten und Motiven, das fest im Jetzt verankert ist und doch ein Science-Fiction-Szenario malt, wie es sich entwickeln könnte, wenn eine Sprache und der Besitz dieser Sprache in Buchform verboten wäre – das ist originell wie beängstigend! Angesichts derzeitiger politischer Entwicklungen wirkt Martinowitschs Roman so hellsichtig und bitterböse, dass dem Leser manch ein Schmunzeln angesichts scheinbar absurder Visionen gefriert.

Viktor Martinowitsch, Jahrgang 1977, hat den Mut und das Talent zur postmodernen Groteske, geht einen Schritt weiter als Ljubko Deresch, zwei weiter als Andrej Kurkow und stürmt lässig den Leuchtturm, in dessen Glaskuppel sich Sorokin und Pelewin grinsend berauschen.

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Viktor Martinowitsch, Mova, Roman, Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler, Reihe Sonar, 394 Seiten, Voland & Quist, Dresden und Leipzig, 2016, ISBN 978-3-863911-43-0, Preis: 25 EUR

in Berlin am 14.2.2017 im LCB: 20:00 Uhr ,MOVA, Viktor Martinowitsch und sein Übersetzer Thomas Weiler in Lesung und Gespräch

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