Unausgesprochenes in einem Familienroman, der sich über ein Jahrhundert in Finnland sprunghaft erstreckt – Annotation zum erstaunlich perfekten Debüt-Roman „Wege, die sich kreuzen“ von Tommi Kinnunen

Wege die sich kreuzen von Tommi Kinnunen.
Wege, die sich kreuzen von Tommi Kinnunen. © DVA

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). „Marias Hand bewegte sich langsam. Sie schob mit den Fingern die Klinge des Messers gegen den Daumen, als zerkleinerte sie Möhren. Im Zimmer war es fast dunkel, aber das bemerkte sie nicht. Sie verrichtete ihre Arbeit, ohne nachzudenken, ohne in Frage zu stellen, ohne sich zu wundern. Die Waschschüssel füllte sich Stück für Stück.“

Die junge Hebamme Maria zerschneidet ein totes Kind in seiner Mutter, um diese zu retten – gleich zu Beginn des Romans: „Wege, die sich kreuzen“ im Jahre 1895. Tommi Kinnunen hat auf 326 Seiten einen Familienroman geschrieben, der genau einhundert Jahre umfasst. Es ist ein mutiges Buch, ein tiefgründiges, mitreißendes und erstaunlich perfektes. Der Autor, 1973 im nordfinnischen Kuusamo geboren wurde, lebt als Lehrer im südwestlichen Turku. „Wege, die sich kreuzen“ ist sein erster Roman, der wochenlang auf Platz der finnischen Bestsellerliste stand, mittlerweile in über 20 Ländern erschien und für den europäischen Buchpreis nominiert war.

Sind die Hauptfiguren zunächst starke Frauen; die Rad fahrende alleinerziehende Hebamme Maria und ihre Tochter Lahja, welche ein Fotoatelier in einer kleinen Stadt im Norden Finnlands eröffnet – nimmt im Laufe der sprunghaften Erzählung die Geschichte Onnis immer größeren Raum ein. Onni wird sein Leben an Lahjas Seite verbringen, zwei Kinder mit ihr bekommen und drei aufziehen. Aber ein dunkles Geheimnis umgibt seine Figur und schleicht sich wie Gift in Lahjas Gemüt…

Wie Filmschnitte setzt Kinnunen mit jedem Kapitel den Blick einer anderen Figur in den Focus, und einer anderen Zeit. Am Ende haben wir einhundert Jahre einer scheinbar normalen Familiengeschichte erfahren, die viele schöne Szenen, viele alltägliche und einige tragische enthält – wie beinahe jede europäische Familie. Aber hier klingen sowohl das Emanzipationsthema als auch das homoerotische überproportional stark an, in einer Meisterschaft, die verblüfft. Kinnunen selbst sagt über sein Buch: „Ich staune, wieviel Unausgesprochenes in jeder Familie steckt. Wege, die sich kreuzen erzählt genau diese Geschichten, über die geschwiegen wird.“

Bibliographische Angaben

Tommi Kinnunen, Wege, die sich kreuzen, Originaltitel: Neljäntienristeys, Aus dem Finnischen von Angela Plöger, Roman, 331 Seiten, Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, Format: 13,5 x 21,5 cm, Verlag: DVA, 19. März 2018, ISBN: 978-3-421-04771-7, Preise: 20 EUR (D), 20,60 EUR (A), 27,90 CHF

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