Berlin, Deutschland (Weltexpress). Jonathan sitzt mit implodierender Schädeldecke im Zug von Hamburg nach Berlin. Die Mutter seines geliebten toten Freundes Strippe erwartet ihn, um von Jonathan Auskünfte über ihren Sohn zu bekommen. In Hamburg zurück, bleiben Elena, der Hund Pasolini, Jonathans aus dem Ruder gelaufenes Leben. Er hat keinen Fahrschein. Nicht für die Fahrt nach Berlin, nicht für sein holpriges Stück Wirklichkeit.
Blende rückwärts, Jonathan und Strippe als Jugendliche zur Wendezeit am Rand von Berlin: „Was sind wir? Fackeln. Woran glauben wir? An uns! Was wollen wir? Die Macht!“
Die Welt steht 1989 auf dem Kopf, die Helden von eben sind die Geister von gleich. So schnell kann man gar nicht gucken, wie sich neue Türen auftun und im gleichen Moment wieder verschwinden. Daddy Cool! Strippe und Jonathan drehen begeistert am Rad und stürzen sich mit ihrer Clique in den Wahnsinn in einer Zeit, wo alles möglich scheint. Das muss doch für ewig halten! Das kann nicht gut gehen, oder doch? Lachen, Klauen, Tanzen, Mädchen, kleinkriminelle Geschäfte. Irgendwo steht irgendwann ein Totenstein und das Schicksal spielt Pädagoge.
Diese Pädagogen, diese verhassten Alleswisser, die von Null auf Hundert Erich Honecker gegen Helmut Kohl eintauchen können, aus Einsicht in die Notwendigkeit, wenn ihr versteht was ich meine.
Wenn nur nicht die schreckliche, die jämmerliche, die banale Wirklichkeit wäre. Sing mit den Fischen, zirpe mit den Grillen und fädele dich ein in den Schaum des Werktages. Die beiden Freunde verlieren einander, was Jonathan bleibt, ist die siedende Sehnsucht dieser Tage, dieses maßlose Wollen.
Er studiert, zieht nach Hamburg, verliebt sich in Elena, eine italienichstämmige Fee, die seine Festung der Einsamkeit zu Wanken bringt, für eine Weile, denn nichts ist für die Unendlichkeit. Außer tote italienische Dichter, Gabriele D’Annunzio sagte, ich schmiede keine Pläne, ich glühe.
Gibt es Sterne, die ewig leuchten?
Den Sturm der Jugend, das Wesen der Freundschaft, Liebe, Wahnsinn und Tod liefert uns Tom Müller in seinem saustarken Romandebüt Die jüngsten Tage. Komplexer Lesestoff, man muss dranbleiben, am besten sperrt man sich einen Tag im Elfenbeinturm ein, um diese überzeugende Geschichte auszulesen.
Ein Buch wie ein Tritt in die empfindsamen Stellen unseres Körpers, sanft wie ein frisch geöltes Fallbeil, hart wie eine gute italienische Dauerwurst aus Venezien, die das würzige Fleisch eines Wildschweins mit der Kraft halluzinogener Pilze vereint.
Bibliographische Angaben
Tom Müller, Die jüngsten Tage, 288 Seiten, Roman, Rowohlt Verlag, Hamburg, 20.8.2019, ISBN: 3-498-0454-49, Preis: 22 EUR, als E-Buch 19,99 EUR