Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Dieser Film war nötig. Hervorragende Dokumentarfilme sind in jüngster Zeit ins Kino gekommen, die die Themen „Können 10 Milliarden Menschen ernährt werden?“, Umweltschutz, Energieresourcenmanagement und Lebensmittelverschwendung abdeckten, die alle zusammenhängen. Fazit: Mit der bisherigen Angebotsweise und Naturausbeutung rasen wir mit hoher Geschwindigkeit auf Zustände zu, die niemand aus dem Volk will. Hunger – ein starkes Wort, um das gern herumgeredet wird, wenn es nicht gerade um Spenden für arme Kinder aus Afrika geht – könnte auch den Industrienationen in 50 Jahren blühen, wenn der alltägliche Wahnsinn so weiterginge. Ein Film über die, die uns am Leben erhalten, fehlte noch.
„Davon haben wir nichts gewusst!“
Ein Film, der die Zusammenhänge erleuchtet, von denen die meisten nix wissen. Damit man hinterher nicht sagen kann: „Aber davon habe ich nichts gewusst“, sollte man jetzt ins Kino gehen. Es lohnt sich.
Fast die Hälfte
Weltweit arbeiten 40% in der Landwirtschaft! Bei uns sind es zwischen 2% und 5% der Bevölkerung, die sich kaum Gehör verschaffen können. Sie müssen früh aufstehen, um ihre Arbeit zu tun. Ein notwendige Arbeit, ohne die wir nichts zu essen hätten. Eine oft entfremdete, technisierte, unangenehme Arbeit. Obwohl die Bauern ständig mit Tieren und Pflanzen zu tun haben – im Wechsel der Jahreszeiten. Auf den Joghurtbechern und Cornflakespackungen gibt es die Idylle auf dem Land aus dem 19. Jahrhundert noch, sonst so gut wie nirgends.
Die Bauern bewirtschaften das Land. Das Wort „Landwirt“ benutzen aber vor allem Politiker und Verbände. Es geht um den Bauern, den Landmann, Agricola, der in dieser Dokumentation zu Worte kommt.
Er spricht und viele Wörter kennen wir nicht, oder nicht in diesem Zusammenhang. Der Schweinebauer muss die Schweine selektieren, die zum Schlachthof gefahren werden. Der Lastwagenfahrer kann sagen: „Ich habe die Tiere ja nur gefahren“. Im Schlachthof geht es dann wieder direkter zu. Aber die Auswahl trifft der Bauer. Immer wieder, das ganze Jahr über: ‚Du stirbst, du kannst noch bleiben, du kommst auch weg.‘ Das geschieht schweigend.
Die Sprache, mit der man sein Tun beschreibt
Während der Judenvernichtung wurde nicht von Menschen gesprochen, sondern von Einheiten. Wieviel schafft der Ofen? 10.000 Einheiten, 20.000 Einheiten.
Bei den Tieren, die „produziert“ werden, wird nicht gesagt: Wir schicken jede Woche soundsoviel Schweine „unters Messer“. Oder: Hundert Schweine müssen sterben. Nein, sie werden ja geschlachtet und es ist wirklich interessant, den Landwirten zuzuhören, wie sie von ihrer Arbeit, von den Abläufen erzählen und mit welchen Worten, während sie vor den Maschinen stehen.
Spezialisierung auf ein (Nutz-)Tier
Überhaupt die Spezialisierung. „Bauer Unser“ zeigt, dass das bunte Bild von glücklichen Kühen, goldenen Garben in der Nachmittagssonne und Höfen, auf denen Katzen, Hunde, Hühner und anders Viehzeugs herumlaufen nicht stimmt, nicht haltbar ist, Illusion.
Auf brutalste Weise hergestellte Nahrungsmittel, die den Namen „Lebensmittel“ oft nicht verdienen, werden in schönen Verpackungen verkauft, für deren Gestaltung Graphik- Designer und Künstler gut bezahlt werden.
Auf vielen Höfen gibt es außer dem Wachhund, vielleicht ein paar Katzen und Ameisen nur noch eine Tierart. Das Schwein, die Kuh, das Huhn. Sie sind meist in riesigen Ställen den Blicken verborgen und sehen mehr Neon- als Tageslicht und Sonne.
Nie Gesehenes sehen
Selbst das Melken übernehmen teils schon die Roboter. Wollen Sie mal sehen, wie ohne Menschenhand eine Kuh gemolken wird? Jetzt haben Sie die Chance.
Paritätischer Wohlfahrtsverband
6 Bauern und Bäuerinnen und 6 Politiker kommen zu Wort. Paritätisch wie selten.
Empfehlung
Der Film: Sehr empfehlenswert. Das Thema: geht uns alle an.
Preispolitik: Günstige Milchpreise – gut für uns?
Alles Mögliche, das nicht essbar ist, kann man – auch als Ware – lagern. Möbel, Antiquitäten, Papierwaren, sogar Geld und Gold. Lebensmittel nicht. Das ist ein Grund für den Milchpreisverfall. Es gibt auch andere.
„Der Tagesspiegel“ titelte am 14. März 2017 auf Seite 15 im Ressort Wirtschaft: „Kampf um jeden Cent. Die Milchpreise sind gestiegen, die Bauern reden aber weiter von der Krise. Schuld sind auch die Molkereien“.
Die also. Im Film kommt ein Vertreter zu Wort und gibt die Schuld an das Oligopol der Einzelhandelsketten weiter. Edeka, Rewe und Aldi hätten, besonders in Deutschland – Billa u.a. in Österreich – soviel Marktmacht, dass sie diktieren könnten, das soundsoviel Liter in die hauseigene „weiße Ware“ abgepackt würden. Ja.
Milch ist dicker als Wasser
Heike Jahberg berichtet im Tagesspiegel, das Allerschlimmste scheine vorbei. „Die Zeiten, in denen Milch billiger war als Markenmineralwasser, liegen hinter den deutschen Milchbauern. Derzeit bekommen sie … von den Molkereien zwischen 30 und 33 Cent pro Liter Milch und damit deutlich mehr als jene 24 Cent, die im vergangenen Jahr viele Landwirte die Existenz gekostet haben. Rund 4000 Milchbauern mussten 2016 ihre Milchkühe abschaffen“, so Hans Foldenauer, Sprecher des BDM, des Bundesverbandes Deutscher Milchviehhalter.
Jahberg zitiert Bundesagrarminister Christian Schmidt von der CSU und Kartellamtschef Andreas Mundt, der darauf hinweist, dass so gut wie keine Molkereiwechsel vorkommen.
Ein Kuriosum scheint bei den 89 privaten und genossenschaftlichen Molkereien, die 98% des Marktes bedienen, Usus zu sein: Was der Bauer bekommt, erfährt er erst, nachdem er geliefert hat. Man stelle sich das bei einer Waschmaschine vor: Erst kommt sie frei Haus, dann bekommt der Lieferant mitgeteilt, wieviel bezahlt wird. Erwartungsgemäß will der Milchindustrieverband MIV von Mundts Verbesserungsvorschlägen nichts wissen.
Heike Jahbergs Artikel zeigt, wie aktuell und wichtig das Thema ist, wieviel noch im Flusse – die Politik müsse Änderungen vorgeben, so Foldenauer vom BDM – auch wenn einzelne Aussagen wie von Professor Haiger (siehe ‚Zitate‘ ganz unten) inzwischen nicht mehr zutreffen mögen.
Den großen Überblick, wie irrsinnig das System ist und wie es funktioniert, gibt nur der Film.
Auch ein gut recherchierter Artikel wie der von Heike Jahberg, der Aufmacher der Seite mit einem Kuhphoto und der Bildunterschrift: „Arbeit muss sich wieder lohnen – auch für Kühe“ bleibt zu sehr im Pingpongspiel zwischen Verbänden, Minister und Kartellamt verhaftet.
„Bauer Unser“
seit dem 23. März bundesweit im Kino. (In der Republik Österreich seit November 2016, äußerst erfolgreich.)
Österreich/ Belgien/ Frankreich 2016. 92 Minuten lang. (Verleih: MFA+)
Vom Produzenten von „We feed the World Let’s make Money“ und „More than Honey“: Helmut Grasser.
Ein Film von Robert Schabus. Idee: Robert Schabus. Kamera: Lukas Gnaiger. Musik: Andreas Frei. Übersetzungen: Mandana Taban, Isolde Schmitt. Flugaufnahmen: Airworx. Grafik: Dorothea Brunialti.
Zitate
„Die internationale Landwirtschaftspolitik und die WTO sind in hohen Maße für die Landflucht der Bauern verantwortlich, besonders der afrikanischen aber auch im globalen Süden, die nun versuchen, über das Mittelmeer zu uns zu kommen.“
José Bové, Mitglied der Europäischen Parlaments
„Da geht’s um ein Milliardengeschäft. Da denkt keiner an den kleinen Bauern im Dorf. Es geht um das Big Business. Da ist ja immer das Argument. Europäer werden nicht mehr. Die Zukunftsmärkte liegen irgendwo in Asien. Man wundert sich nur, dass diese Politik nie das gehalten hat, was versprochen wurde. Aber für einige ist die Rechnung aufgegangen und die lobbyieren hier in Brüssel massiv.“
Martin Häusling, Mitglied der Europaparlaments
„Wir nehmen dieses TTIP als etwas wahr – Europa gegen Amerika – und wer beinflusst da wen. Die Wahrheit ist: Es ist ein Scheunentor, durch das die Industrie sich BEIDE Regierungen gefügig machen kann. Das halte ich für falsch, gefährlich und von der Konstruktion her für antidemokratisch.“
Benedikt Haerlin, Zukunftsstiftung Landwirtschaft
„Ein Liter Milch ist billiger als ein Liter Mineralwasser“.
Alfred Haiger, Univ.-Prof. i.R.
„Seit 1995, also in den letzten 20 Jahren, haben in Österreich alleine 55.000 Milchviehbetriebe zugesperrt. Wenn du das auf Stunden umrechnest. Alle 3einhalb Stunden hat 20 Jahre lang ein Betrieb zugesperrt.“
Ewald Günzweil, Bauer