„Das Schloss“ von Keimzeit

Keimzeit
"Das Schloss" von Keimzeit. © Keimzeit

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Mit den Worten „das Schloss aus Papier“ beginnt nicht nur das erste Stück der LP und CD „Das Schloss“ von Keimzeit, sondern auch der Text des ersten Liedes.

Mit den Worten „das Schloss war aus Papier“, die wie manch andere Worte doppelt gesungen werden, endet das Lied. Das prägt sich ein, wie Worte von Lehrern in Schulen, oder?

Laut Pressemitteilung handele es sich bei diesem Schloss um das, „in das Norbert Leisegang bis zur 8. Klasse in die Schule gegangen ist und andererseits um ein Fantasie-Schloss aus Papier, um ein persönliches Zurückschauen auf die früheste Kindheit, wo das Einreißen von Konventionen hin zur kindlichen Anarchie quasi Programm ist“.

Kindliche Anarchie? Starker Tobak, der nach Herrschaftslosigkeit und Gesetzlosigkeit klingt, aber auch nach der Gabe, sich und seinem Leben einen existentiellen Sinn zu geben.

Dass E beziehungsweise E-Moll sein Lieblingsakkord mit 14 auf der Gitarre gewesen sei, das wird im zweiten Lied gesunden, auch doppelt, doch darum dreht sich der Song nur am Rande. „Blutige Nasen, Kratzer und Beulen“ spielen eine ebenso große Rolle beim Buben.

„Auch wenn ich mal von anderen Künstlern zu Songs inspiriert werde, ist es am Ende doch immer so, dass ich die Strickart meiner Songs nicht wirklich verlasse“, sagt Norbert Leisegang über das Schreiben seiner Lieder. Und die Sprache der Strickart ist die deutsche Sprache. Das ist schön und gut – auch im „Fliegenden Teppich“, der als „besudelter Pudel“ mit dem Boden spricht, aber nur als Roter oder Fliegender Teppich außergewöhnlich sei. Hinzu gesellen sich so einige Es-sei-denn-Wiederholungen und so ist es auch am Ende so, dass der Teppich „hochrot“ davonflog. Lustig.

Vor allem dieses dritte Stück mit Sprachgesang erinnert an solche aus den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts, der mit allem, was ein alter Synthesizer noch in der Lage und willens war, herzugeben, unterlegt wurde. Wahnsinn oder auch eine Hommage an Schülerbands der 1970er und 1980er Jahre, bei dem auch oft eine Parabel bemüht wurde, auch „über eingefahrene, scheinbar untrennbare Beziehungen, die plötzlich und unerwartet ‚verfliegen‘ können“.

„Das neue Werk ist keine Neuerfindung der Band und soll es auch gar nicht sein. ‚Das Schloss‘ schließt sich eher organisch an die letzten Werke der Gruppe an. ‚Herausgekommen ist ein klares Keimzeit-Album, bei dem auch meine Bandkollegen zu dem Takt, den ich vorgebe, gerne mitgehen.‘ Was sich geändert hat, ist der Gesamt-Sound. Denn Keimzeit haben diesmal mit Moses Schneider zusammengearbeitet, der unter anderem auch schon für Tocotronic und die Beatsteaks an den Reglern saß. Die Basics wurden in einem Studio im Flughafen Tempelhof in nur vier Tagen live aufgenommen. Dazu kamen noch zwei Tage für Overdubs, das war es auch schon. Klingt als wären Keimzeit in die 60er zeitgereist, um das Wesentliche in ihrer Musik zu suchen und schließlich zu finden. Dieser am Live-Sound von Keimzeit orientierte, erdige Gesamtklang zahlt sich in der Intensität und Atmosphäre der Lieder brutal aus.“

Aha oder auch „Nicht“, womit wir beim vierten Stück der Scheibe wären, nicht wahr?! Übers Glücklichsein geht es darin, beinahe schon ums existenzielle Glücklichsein, bis das Nichts nichtet. Erst Camus, dann Sartre. Soso.

Auch der „Seeigel“ mag wie alle anderen Lieder in seiner „klanglichen und textlichen Einzigartigkeit fesseln, berühren und auch nachdenklich machen“ … in seiner Mit- der-Klampfe-am-Lagerfeuer-Romantik „von Millionen von Jahren“. Versteinerte Seeigel Arm in Arm? Flowerpowerprächtig. Ich sehe Seerosen und höre vom „stürmischen Meer“! Bin ich auf Pilze?

Wenn ja, dann geht das schief, was wir tun. „Actionkalle“ ist ein weiterer autobiografischer Titel, in dem Schule reflektiert wird. „Schon zu seiner Einschulung kam Kalle eine Stunde zu spät“, heißt es darin. Guter Anfang ist leicht!

„Der Titel ist aus Beobachtungen während eines Klassentreffens entstanden, bei dem einige seinerzeit eher unwillige und aufsässige ehemalige Schulfreunde jetzt hohe Positionen als Ärzte oder in der Wissenschaft erreicht hatten. ‚Actionkalle‘ ist der definitiv rockigste Song auf ‚Das Schloss‘ und kracht insofern wunderbar lärmend aus dem Keimzeit’schen Rahmen.“

In dem Stück „Später“ geht es um Spätheimkommer und das Warten der anderen. „Vor einer Weile noch regnete es Rosen für uns“ und dann das Warten in einem Nest im Nirgendwo. Tatsache. Traurig, melancholisch. Magnolia.

„Wieviel von deiner Liebe“ ist geblieben? Zerschreddert?! Gute Frage: „Wieviel von deiner Liebe hattest du investiert?“ Auf jeden Fall kein „Großes Geschrei“ wie im nächsten Stück zwischen Kopf und Herz und Mitnahme. Versprochen.

„Ein aus einem persönlichen Erlebnis entstandener Uptempo Song ist ‚Stillstand‘. Norbert Leisegang erinnert sich: ‚Die Idee zu diesem Song ist mir während einer Zugreise gekommen. Plötzlich war da ein heftiger Sturm, und alle Passagiere mussten am nächsten Bahnhof aussteigen. Keiner wusste wie es jetzt weitergeht und ich dachte so bei mir, dass diese Naturgewalt uns alle zum Nichtstun, also zum Stillstand, verurteilt hat.'“

„Stillstand ist aktuell mein bevorzugtes Transportmittel“. Da wird sich die Transport-Industrie freuen, das zu hören.

„In Glasscherben“ geht es um einen Begriff, der „überhört“ wird und „an uns unerkannt vorbeirauscht“ wie das Glück. Erwischt. Geschrieben. Und besungen das, „wovon wir keinen Schimmer“ hätten. So ist das, wenn das Verhältnis von Begriff und Gegenstand ein reziprokes ist. Der Gegenstand will den Begriff ausfüllen und der Begriff den Gegenstand umfassen. Beides brauch diesem Unterfangen vor allem eines: Glück, verstanden als die Übereinstimmung von Wollen, Können und Dürfen. Das ist dann doch ein wenig viel für das Wahre, Schöne und Gute, oder?

„Keimzeit haben mit ‚Das Schloss‘ ein wahrlich meisterhaftes Werk geschaffen. Die Texte sind melancholisch, witzig und erfrischend anspruchsvoll. Sie führen uns auf Entdeckungstour durch Leisegangs musikalische und intellektuelle Welt. Irgendwie ist der Sänger hierbei sein eigener Schlossführer, dem man für seine Leistung am Ende nur begeistert applaudieren kann.“

Ja oder nein? Die Antwort keimt noch in meinem Kopf und braucht Zeit.

Bibliographische Angaben

Keimzeit, Das Schloss, LP: 1064046CHX, CD: 1064045CHX



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