Deutsche Geschichte ab den 1980ern anhand von Zeitzeugenberichten nacherzählt – Annotation zum Sachbuch „Tausend Aufbrüche“ von Christina Morina

"Tausend Aufbrüche" von Christina Morina. © Siedler

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Ein weiteres Buch zur Geschichte der Ostdeutschen und der Demokratiedeutung. Es fehlt ein wenig der Sound des wütenden Oschmann-Pamphlets und die einfühlende Gründlichkeit Hoyers. Trotzdem ist es eine Erweiterung des Diskurses. Über ihre Vorgehensweise sagte Christina Morina dem NDR*: „Ich habe mir die alltagspolitische Sprache der Bürgerinnen und Bürger in Ost und West angeschaut. Diese Bürgerpost ist sehr vielfältig und ganz vielstimmig, auch gerade für Ostdeutschland. Höchst politisiert wird mit den Fragen gerungen: welche Demokratie und ob überhaupt Demokratie und wie dort hinzukommen sei. Dabei entsteht ein Bild, dass die 89er-Revolution, die wir zurecht als Sternstunde der deutschen Demokratiegeschichte feiern, etwas erweitert und breiter fragt, welche Art von Demokratie, Erfahrung und Ideen eigentlich Ostdeutsche vor dem großen Aufbruch hatten und wie das mit der Geschichte seither zu tun hat. Die deutsche Demokratiegeschichte und die Geschichte des deutschen Staatsbürgerseins sind jahrhundertelang geprägt von einer sehr obrigkeitsstaatlichen Auffassung und einer langen Trennung des Bürgerbegriffs in den Privatbürger und in den Staatsbürger. Das ist etwas, was das geteilte Deutschland an ideengeschichtlichem und politischem, kulturgeschichtlichem Ballast aus der Vorgeschichte bis 1945 teilt. Das bricht in der Bundesrepublik nach und nach mit der nachhaltigen Liberalisierung der Gesellschaft auf – eine Mündigkeit, ein Staatsbürgerbewusstsein, entsteht, das diesen Staat als Einrichtung der Bürger füreinander begreift. So hat es Weizsäcker mal formuliert. Diese Erfahrung konnte man in der DDR selbstverständlich nicht machen. Da findet sich in den Briefen das Ringen um Mündigkeit, das Einfordern einer mündigen, gleichberechtigten Mitsprache als eines der zentralen Motive – und gewissermaßen zugleich auch mit der SED-Herrschaft eine Fortführung dieser Untertanentradition.“

Das ist alles nicht neu, liest sich aber auch für westdeutsch sozialisierte Menschen gut weg, weil sie auf politische Grabenkämpfe verzichtet. Kann man lesen, auch wenn es mitunter etwas blass und unkonkret tönt.

Bewertung: Dreieinhalb Punkte von fünf Punkten.

Bibliographische Angaben:

Christina Morina, Tausend Aufbrüche, Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren, 400 Seiten, fünf Schwarz-Weiß-Abbildungen, Format: 13,5 x 21,5 cm, Bindung: fester Einband, Verlag: Siedler im Konzern Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München, 1. Auflage 27.9.2023, ISBN: 978-3-8275-0132-5, Preise: 28 EUR (Deutschland), 28,80 EUR (Österreich), 37,90 SFr

Anmerkung:

* Norddeutscher Rundfunk in der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands (ARD)

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