Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Man muß seine Augen auch hinten im Kopfe haben. Sagt Friedrich Nietzsche und denkt dabei wohl nicht an eine Transplantation. Dafür spricht schon, dass Menschenaugen paarig auftreten, im Idealfall, Hühneraugen mal außen vor. Der Satz hätte keinen Sinn mehr, wenn beide Augen umgepflanzt würden, dagegen spricht das Wörtchen „auch“. Gleichzeitig ist dieser Spruch ein Buchtitel. Man findet ihn nicht auf dem Buchrücken der Hanser-Ausgabe, da das broschierte Büchlein gerade einmal 47 Seiten misst. Die 48., die es geben muss, wie Kenner des Buchdrucks wissen, ist der Verlagseigenwerbung vorbehalten.
Die Seitenzahl eines Buches – die tatsächliche, ist in der Regel durch 16 oder wenigstens durch 8 teilbar. Denn gedruckt wird auf großen Bögen in noch größeren Maschinen – ruckzuck. Anschließend werden die Bögen in Seiten zerschnitten und sortiert. Das hat man in Technikbüchern oder auch schon mal auf einer Briefmarke gesehen. Auch aus verhefteten Bögen kann man Rückschlüsse ziehen.
Mit Nietzsche durch dick und dünn
Dass der Hanser-Verlag sich nicht auf dünne Bücher spezialisiert hat, zeigen schon die genau vier Verlagshinweise auf die Eigenproduktion. Das dünnste dort angekündigte hat 400 Seiten, eine Nietzsche-Biographie von Rüdiger Safranski – „Biographie seines Denkens“. Die anderen drei Titel sind dick. Da hilft auch keine Schlankheitskur.
Am dünnsten ist noch „Nietzsche – Index zu den Werken in drei Bänden“ mit 520 in Leinen gebundenen Seiten. Doch wie der Titel schon sagt, ist das nur ein Registerband. Nietzsches „Werke in drei Bänden“ umfassen zusammen 4032 Seiten. Das stahlgraue Feinleinen kann den Umfang seiner Werke nur durch Dünndruck bändigen. Über 1200 Seiten kommen trotzdem im Schnitt pro Band heraus, jedoch kann man ja durch die Auswahl des Papieres die Dicke zwischen des Buchdeckeln maßgeblich beeinflussen. Immer wieder ein faszinierendes Erlebnis, wenn man in einer Buchhandlung oder einem Antiquariat mehrere Bücher unterschiedlicher Dicke vergleicht. Öfter als erwartet hat das dünnere mehr Seiten als das scheinbar „Dickere“.
Upper Middle Class in punkto Seitenzahl, also im oberen Mittelfeld liegt die „Chronik in Bildern und Texten“, eine einmalige limitierte Ausgabe in Leinen mit Fadenheftung mit 864 Seiten.
Man muß seine Augen auch hinten im Kopfe haben – Zahlreiche Ratschläge, das Leben zu bewältigen
Das Buch ist voller Zitate, Nietzsche schon lange tot. Trotzdem beansprucht der Hanser-Verlag im letzten Jahr des vergangenen Jahrtausends Urheberrechte. Diese wohl für die Fassung, die Auswahl und die Gliederung. Sowohl natürlich für die Illustrationen von Luis Murschetz. Außerdem erschienen Nietzsches Werke auf über 4000 Seiten in demselben Verlag.
Auf der letzten Zitateseite der vorletzte Nietzschetext ist Leserkritik. Kritik am Leser. An bestimmten Lesern um genau zu sein. Wer möchte schon ein schlechter Leser sein? Ich nicht. Die Krux ist: Rezensent wird man nicht, ohne vorher die Zeilen zumindest durchstöbert zu haben. Bei Prosa muss man mehr lesen.
Das steht also nun auf Seite 47: „Die schlechtesten Leser sind die, welche wie plündernde Soldaten verfahren“. Pfui. Also Soldaten – na gut, Nietzsche schrieb das vor langer Zeit – das sind doch die, die morden und von den rechtlichen Folgen durch zweifelhafte Autoritäten entbunden werden? Die christliche Religion, die bei Friedrich auch ihr Fett weg bekommt, verbietet das Töten anderer Menschen ausdrücklich. In einem der Gebote, seien es nun zehn Gebote oder nicht, heißt es deutlich: Du sollst nicht töten.
Nietzsche starb am 25. August des letzten Jahres des 19. Jahrhunderts. in Weimar. In diesem Jahr 1900 war das Wort „Weltkrieg“ noch nicht erfunden, obwohl Namensgeber Friedrich, Kurfürst und König in Preußen, 1756-1763 schon maßgeblich mitfocht in so einem; verbündet mit Großbritannien und gegen so manche andere Weltmacht wie Österreich.
Man muß seine Augen auch hinten im Kopfe haben – Nietzsches Reibung mit der Religion wird auch in der Kürze deutlich
Im Ersten Weltkrieg, an dieses Schwarz-weiß-Photo aus dem Geschichtsbuch erinnere ich mich genau, gab es Fahrzeugweihen. Priester und Pfarrer weihten militärische Fahrzeuge, damit sie nicht zerstört würden. Von den Insassen einmal abgesehen. Das Weihwasser half wenig. Jedenfalls scheinen Funktionsträger der Religionen zu Friedenszeiten das Gebot, Leben zu achten und zu bewahren, mehr zu erinnern und zu propagieren. Nietzsche hatte die Religion auf dem Kieker, auf Seite 30 des Hanser-Büchleins gibt es 7 Zitate zu „Religion und Glaube“, in denen die Inkonsequenz und mangelnde Logik herausgestellt wird. Murschetz illustrierte das erste mit einer Zeichnung, in der eine Wolke an einem Seil einen Berg transportiert, am Gipfelkreuz aufgehängt.
Der Berg sieht ungefähr so aus, wie ihn sich die Schneemenschen in „Smallfoot“ vorstellen; dem sehenswerten Zeichentrickfilm von KAREY KIRKPATRICK, der am 11. Oktober 2018 in die deutschen Kinos kommt. Der Berg ist unten der Einfachheit halber abgeschnitten.
Sich die Erde als Scheibe vorzustellen, ist auch einfacher als die dreidimensionale Sichtweise einer Kugel.
Das Zitat lautet: „Zwar hat der Glaube bisher noch keine wirklichen Berge versetzen können, (…) aber er vermag Berge dorthin zu setzen, wo keine sind.“
Weiter meint er: „Sobald eine Religion herrscht (sic), hat sie alle die zu ihren Gegnern, welche ihre ersten Jünger gewesen wären.“
Und: „In jeder Religion ist der religiöse Mensch eine Ausnahme.“
Wer neutral ist, muss Nietzsche bei vielen Aphorismen beipflichten.
„Angewöhnung geistiger Grundsätze ohne Gründe nennt man Glauben.“
„Der ‚Glaube‘ als Imperativ ist das Veto gegen die Wissenschaft – in praxi die Lüge um jeden Preis …“
Man muß seine Augen auch hinten im Kopfe haben, hieß für F.N. auch: Die Wissenschaft kriegt ihr Fett weg
Gerechterweise – auf Seite 24 vier Zitate unter der Überschrift „Gerechtigkeit“ – hier der Hinweis, dass Nietzsche auch an der Wissenschaft Kritik übte. Er kritisierte außerdem Moral, Philosophie und bestimmte Kunstformen. Jung ein Schopenhauerfan, entsagte er später dessen Pessimismus und wurde durch und durch lebensbejahend. Wer hätte das gedacht.
Wer ist das nochmal, der gesagt hat: Man muß seine Augen auch hinten im Kopfe haben?
Nietzsche wurde 1844 in Röcken geboren. Das ist keine Genderaussage; auch keine über Kleidungsvorlieben oder sonstige. Röcken ist seit 2009 keine Gemeinde mehr und gehört zu Lützen. Das wiederum heute zu Sachsen-Anhalt, damals zur preußischen Provinz Sachsen. Er starb in Thüringen in der viertgrößten dortigen Stadt. Ab 1869 lebte er in Basel und galt als staatenlos. Dass sein Leben preußisch begann, bestätigt sein Name zweifellos. Friedrich und Friedrich Wilhelm hießen sämtliche preußischen Kurfürsten und Könige des 18. Jahrhunderts. 1840 starb Friedrich Wilhelm III. und Friedrich Wilhelm IV. trat sein Amt an (bis 1861). Vater Carl Ludwig, ein Pfarrer, taufte seinen Sohn auf des Königs Namen, da der Geburtstag seines Sohnes mit dem 49. des preußischen Monarchen zusammenfiel. Es war der 15. Oktober 1844.
Nach dem Tod des Vaters und Bruders lebte der junge Nietzsche Anfang der 50er Jahre zwischen Röcken im „Naumburger Frauenhaushalt“. Fünf weibliche Verwandte und ein Dienstmädchen umgaben ihn. Wichtig wäre vielleicht noch, dass er mit 24 Professor wurde, in Basel, wo er studierte.
Ausgerechnet ein Reitunfall bewahrte ihn vor dem Militärdienst, den er im deutschen Krieg noch hatte vermeiden können. Ab 1869 Professor in der Schweiz, wo er auch Wagner wiederholt traf, half er als Sanitäter im deutsch-französischen Krieg, was er mit einer schweren Erkrankung bezahlte.
Nietzsche ab 1879
Zehn Jahre später musste er aus gesundheitlichen Gründen wegen Migräne und Kurzsichtigkeit aufhören und reiste viel herum auf der Suche noch Orten, die seine Gesundheit zu erhalten geeignet schienen. Nach seiner Frühpensionierung blieb er im Sommer meist in Sils-Maria und im Winter in Turin oder am Mittelmeer in Italien oder Nizza, was ja auch lange italienisch war (bis 1860). Der Name verrät’s bis heute.
Nietzsche galt zeitlebens als Philologe und wurde erst posthum als Philosoph wahrgenommen. „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ (1872), sein erstes größeres Werk, deutet das an. Statt philologischer Methode geht er (spekulativ) philosophisch vor. Als er in Bonn anfing, zu studieren, gehörte evangelische Theologie zu seinen Fächern. Zur Enttäuschung seiner Mutter aber nur ein Semester lang.
Immerhin war ein langjähriger Vertrauter – Franz Overbeck, den er 1870 als Kollege in Basel kennenlernte – ein atheistischer Theologieprofessor.
Nietzsche komponierte und dichtete; als Schriftsteller brachte ihm „Also sprach Zarathustra“ Ruhm. Den ersten Teil schrieb er in nur zehn Tagen in Rapallo. Es flutschte. Den dritten Teil schrieb er wieder bei einem Tapetenwechsel – in dem Bergdorf Ezé oberhalb von Nizza beziehungsweise Nice. Geistige Tätigkeit wird eben zuweilen von Auszeiten begünstigt.
Unser Büchlein sagt dazu auf Seite 38: „Die Jahre während und vor allem nach dem Zarathustra [waren] ein Notstand ohnegleichen. Man büßt es teuer, unsterblich zu sein.“ Und sogar: „Man stirbt dafür mehrere Male bei Lebzeiten.“ –
Insgesamt scheint mir, dass der Weg der Aphorismen der richtige war. Breite Schichten gelangten so in den Genuss der Erkenntnisse oder Gedanken. Zudem heute in der Handy-Postmoderne ein Aphorismus die Zeit einspart, die der E-Mail-Checker sonst nicht mehr hat.
Kein Beinbruch
Wir schulden noch den Rest vom Leser-Zitat und das Rad.
Sie wissen schon: die Gleichsetzung der schlechtesten Leser mit plündernden Soldaten. Wir kommen an dieser Stelle lange nicht weiter, wenn wir hier das Kriegsdienstverweigerungs-Faß aufmachen. Nietzsche hatte seine Zweifel am Dienen. Dann hatte er einen Reitunfall. Das erinnert an die asiatische Geschichte, die einfach nicht entscheiden kann, ob etwas gut ist oder schlecht. Dort fällt ein Junge vom Pferd und bricht sich ein Bein. Alle sagen: „Was für ein Pech“. Als Krieg ausbricht und kaiserliche Rekrutierungsbeamte ins Dorf kommen, nehmen sie alle jungen Männer mit bis auf den genannten. Alle sagen: „Was für ein Glück!“ [Die Geschichte geht ja noch weiter, doch es ist schon nach Mitternacht und dieser Text ist erst fertig, wenn Sie ihn lesen.]
Nietzsche schrieb: „Man bricht das Bein selten, solange man im Leben mühsam aufwärts steigt – aber wenn man anfängt, es sich leicht zu machen und die bequemen Wege zu wählen.“ (Menschliches, Ebenda Seite 6).
Man muß seine Augen auch hinten im Kopfe haben: Zitate, Aphorismen, Gedanken
Wir gehen hier der Einfachheit einfach mal davon aus, dass Soldaten super sind, oder zumindest okay. Genau wie man in Notwehr einen Angreifer töten darf, verteidigt die Bundeswehr ja auch nur unser Land. Aber plündern, das ist natürlich nicht OK. Aktuelles Beispiel: Sulawesi, wo nach Erdbeben, Tsunami und Vulkanausbruch mit Plünderern nicht zimperlich umgegangen wird.
Nietzsche weiter: „Sie nehmen sich einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das Übrige und lästern auf das Ganze.“
Nun, wir sind voll des Lobes und entziehen uns schon dadurch der Gefahr, schlechte, gar schlechteste Leser zu sein. Man muß seine Augen auch hinten im Kopfe haben – vielleicht ist damit auch gemeint: dann könnte man Bücher aus einer ganzen anderen Position lesen? Auch beschmutzen liegt uns fern – aber das mit dem Herauspicken lässt sich nicht verhindern. Zumindest beim Schreiben. Herausgepickt haben wir zum Beispiel dieses:
„Pfui! Ihr wollt in ein System hinein, wo man entweder Rad sein muß, voll und ganz, oder unter die Räder gerät.“ (Volk und Masse, Seite 43)
Bibliographische Angaben
Friedrich Nietzsche: Man muß seine Augen auch hinten im Kopfe haben – Zahlreiche Ratschläge, das Leben zu bewältigen. Mit Zeichnungen von Luis Murschetz. 47 Seiten. Hanser-Verlag, „Carl Hanser Verlag“ München, Wien, copyright 2000; ISBN 3-446-19888-1. Preise: neu möglicherweise vergriffen, bei Abebooks.de zwischen 3,27 und 10,- EUR
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