Leben in lichtdurchlässiger Hülle – Annotation zum Roman „Schwindende Schatten“ von Antonio Muñoz Molina

"Schwindende Schatten" von Antonio Munoz Molina. © Penguin-Verlag

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Ohne Zweifel ist der grandiose spanische Seelenforscher Antonio Muñoz Molina einer der wichtigsten Schriftsteller der Gegenwart. Seine Bücher zur jüngeren spanischen Geschichte sind kunstvolle Gespinste in epischer Länge, kaum ein Satz ist unter sechs oder sieben Zeilen lang. Man muss bei der Lektüre seiner Bücher Zeit mitbringen. Wer diese Zeit hat, wird von Molina auf 500 Seiten mit seinem vielleicht bisher persönlichsten Roman reich beschenkt.

Unsere Tage schwinden dahin, das ist eine unabwendbare Tatsache. Molina, Seismograph der spanischen Geschichte, schickt seine Figuren auf einen langen Ausflug nach Lissabon, Memphis und weitere Regionen, die für den Mord an Martin Luther King eine Rolle spielten.

„Ein Roman ist ein Geisteszustand, ein warmes Interieur, in das man sich zurückzieht, solange wie man schreibt; wie ein Kokon, den man Faser für Faser von innen webt und in den man sich einschließt, die Außenwelt jenseits dieser lichtdurchlässigen Hülle nur noch als vage Helligkeit wahrnehmend. Einen Roman schreibt man, um zu beichten und sich zu verstecken“, sagt Molina in „Schwindende Schatten“ irgendwann und bietet eine der schönsten Erklärungen, was das Schreiben von Romanen sein kann.

Sein Lissabon, sein Memphis sind magische Orte, wo sich die Leben des M.-L.-King-Attentäters und die des Autors Molina sanft kreuzen.

Um es noch ein wenig zu verkomplizieren, findet der Roman auf drei Zeitebenen statt. Kapitel um Kapitel erfahren wir, wie sich der Autor, einmal als junger Mann in den achtziger Jahren, einmal in der Gegenwart, als auch der Attentäter, Lissabon annähern. Der junge Autor ist ein scheiternder Familienvater und junger Dichter, der alte Autor ein gestandener Schriftsteller, der mit seiner Frau, die nicht die Frau aus den achtziger Jahren ist, Spuren abgeht. „Schwindende Schatten“ spielt mit den Grenzen zwischen Biografie und Roman. Es ist ein Buch über einen kranken und einsamen Attentäter auf der Flucht, ein Buch über die Bemühung, Schriftsteller und Familienvater zu sein, ein Buch über Angst, dunkle Nächte und Wahnsinn.

Es ist in erster Linie ein Lesegenuß für fortgeschrittene Bücherwürmer, die es gern vertrackt haben. Molinas großartige, magische Sprache gibt uns ein Geleit durch die Tiefen menschlicher Abgründe.

Bibliographische Angaben

Antonio Muñoz Molina, Schwindende Schatten, Übersetzer: Willi Zurbrüggen, 512 Seiten, fester Einband, Penguin-Verlag, München 2019, ISBN: 3-328-60013-8, Preise: 26 EUR (D), 26,80 EUR (A), 36,50 SFr

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