Rasha in a Rush – Kuratorin Rasha Saltis Zeit der Unruhe zwischen Berlin und Paris beim „Cinéma du Réel“

© Foto: Andreas Hagemoser, 2016

Berlin, Deutschland; Paris, Frankreich (Kulturexpresso). Am 19.3. begann in Paris die Filmreihe „Akram Zaatari: In Between“, kuratiert von Rasha Salti im Rahmen der Programme außer Konkurrenz des Internationalen Dokumentarfilm-Festivals „Cinéma du Réel“, das vom 18.-27. März 2016 dauert. Die Kanadierin Rasha Salti stammt aus Toronto, wo sie bis vor wenigen Wochen fünf Jahre lang für das Toronto International Film Festival TIFF tätig war.

Ihr Zeitplan sieht nach Rush Hour aus: In Berlin eröffnete am Freitag, den 18. März die von Kristine Khouri und ihr kuratierte Ausstellung „Zeit der Unruhe. Über die Internationale Kunstausstellung für Palästina 1978“ im Untergeschoss des Hauses des Kulturen der Welt (HdKdW oder HKW). Am gleichen Abend fand das Auftaktsymposium von „A History of Limits. Zur Architektur von Kanon-Erzählungen“ statt. Die Ausstellung und die Konferenz bilden wiederum gemeinsam den Auftakt zum übergreifenden, mehrjährigen HdKdW-Projekt „Kanon-Fragen“ 2016-2019.

„Zeit der Unruhe“ als Auftakt für „A History of Limits. Zur Architektur von Kanon-Erzählungen“

Die Konferenz „A History of Limits“ am 18. und 19. März 2016 – von Paz Guevara kuratiert – und das Großprojekt Kanonfragen, dessen Prälüde sie bildet, gehen ans Eingemachte. Was gehört zur Kunst? Wovon berichtet ab morgen die Kunstgeschichte? Von welcher heutigen und gestrigen Kunst und von welchen Künstlern? Wer gehört dazu und wer bleibt außen vor – und gerät damit ins geplante Vergessen? Wer entscheidet eigentlich, wer dazugehört und wer den Stempel “unwichtig“ aufgedrückt bekommt? Wenn das einmal geschehen ist, lässt es sich rückgängig machen?

„A History of Limits. Zur Architektur von Kanon-Erzählungen“ setzt beim Leitbild des Hauses der Kulturen der Welt seit seiner Gründungszeit 1989 an, die Parameter des Eurozentrismus und des westlichen Kanons zu durchbrechen. Kritik und Dekonstruktion des Kanons der Moderne prägen die künstlerische Praxis und Theorie der vergangenen Jahrzehnte. Das Haus fragt: Wie muss das Fundament für einen neuen Kanon beschaffen sein und wie ließe sich dieser erzählen?
Natürlich ist die Bildung des Kanons ein Machtkampf, doch heißt es dazu aus dem Haus der Kulturen: „der Kanon ist nicht nur ein institutionelles Machtinstrument; er lässt sich auch einsetzen, um Wissen, Verständnisvermögen und ein historisches Bewusstsein herauszubilden.“

Wohl dem, der bei einem Kanon an „Frère Jacques“ und „Kumbayah“ denkt, denn das ganze geht bis an die Grenzen des Denkens und darüber hinaus. Eigentlich müsste man außerhalb der Kunst (der Welt) stehen, um einen Überblick zu bekommen. Hier ‚drinnen‘ ist es schon eine Herausforderung, zu begreifen, dass wir einen, viele Kanons haben, die eben keine Selbstverständlichkeit sind, sondern immer von einem Menschen oder einer Gruppe geschaffen wurden. Sie können ‚hinterfragt‘ werden mit einem „Cui Bono?“ und anderen Verhörfragen. Wenn das Begriffene dann erst einmal infrage gestellt ist, vergeht bis zu einem Wechsel aber noch eine gewaltige Denkleistung – bei vielen. Stichwörter: Sehgewohnheiten, Denkgewohnheiten, Bequemlichkeit.

Die Geschichte der Grenzen bringt viele an ihre Grenzen. Umso notwendiger die Arbeit, die hier von Kuratorin Paz Guevara und Bereichsleiter Anselm Franke unter Bernd Scherer bis 2019 geleistet werden wird.

Die Ausstellung „Zeit der Unruhe“

Im Mittelpunkt von „Zeit der Unruhe / Past Disquiet“ steht die Geschichte und der historische Kontext der Solidaritätsausstellung für Palästina aus dem Jahr 1978 in Beirut. Von dort aus spinnen sich die Fäden, tauchen Namen wieder auf.
Akribisch wurde recherchiert, dabei immer wieder mit der Aussage konfrontiert: „Warum wollt ihr etwas über diesen Künstler wissen? Der ist doch nicht wichtig!“
Andere Wanderausstellungen, die sich ebenfalls als Museen im Exil verstanden und zur selben Zeit wie die Internationale Kunstausstellung für Palästina entstanden – wie zum Beispiel das „Museo Internacional de la Resistencia Salvador Allende“ mit chilenischer oder die Organisation „Artists Against Apartheid“ mit südafrikanischer Exilkunst – werden eingebunden und machen sowohl personelle als auch geistige Verbindungen als auch einen ähnlichen Aufbau sichtbar.

„Past Disquiet“ wurde 2015 vom Museu d’Art Contemporani de Barcelona (MACBA) konzipiert und präsentiert. Die Berliner Ausstellung 2016 ist ein MACBA-cum-HdKdW-Produktion.

Die Filmreihe über den Regisseur Akram Zaatari

Während in Berlin die Konferenz und die Ausstellung begannen – in Anwesenheit von Frau Salti – lief auch der 1. Tag von Cinéma du réel“ – in ihrer Abwesenheit. Wahrscheinlich saß sie auf glühenden Kohlen. Am Samstag war sie dann rechtzeitig zur 1. Vorführung der von ihr kuratierten Akram-Zaatari-Reihe in Paris.

Zaatari ist ein libanesischer Regisseur, Photograph, Künstler und selbst Kurator. 2013 durfte er sein Land auf der Biennale di Venezia vertreten. Venedig, 1895 gegründet, ist die Mutter aller Biennalen, auch der noch sehr von den Künstlern selbstbestimmten Ersten Arabischen Biennale in Bagdad (1974). Die 1976er Biennale in Venice, die eigentlich in einem ungeraden Jahr hätte stattfinden sollen, stand sehr unter dem Eindruck des 1974 beginnenden kulturellen Protestes gegen die Diktatur Augusto Pinochets unter dem Titel „Freiheit für Chile“. Beide Biennalen sind Thema der Ausstellung „Zeit der Unruhe“.
Akram Zaataris libanesisch-französischer Film „Thamaniat wa ushrun laylan wa bayt min al-sheir (28 Nächte und ein Gedicht)“ feierte auf der 65. Berlinale 2015 im Forum seine Weltpremiere. Der 105minütige Film, Zaataris jüngster Spielfilm, eröffnete die Reihe als Frankreichpremiere am Samstag und ist am Montag, den 21. März um 14 Uhr noch einmal im Luminor Hôtel de Ville auf dem Programm.

Rasha Salti wählte 18 Filme aus und präsentiert sie in sieben Scheibchen. „Akram Zaatari #2“ bringt zwei neue englischsprachige Kurzfilme: „Beirut exploded Views“ und „Letter to a refusing pilot“ (‚Brief an einen Piloten, der sich weigert‘); am Freitag, 25. März um 12.20 Uhr im Luminor Hôtel de Ville.
Das dritte Programm ist der 86minütige Film „Al Yaoum“, der von einem Photo ausgeht, das der Historiker Jibrail Jabbour in den 50ern schoss. Am Donnerstag, 24. März um 12.10 Uhr im Luminor Hôtel de Ville.

‚Akram Zaatari Nr. 4‘ besteht aus drei Kurzfilmen: „Nour“ (Reflektion) beobachtet einen Jungen, wie er mit einem Spiegel das Tageslicht einfängt, gedreht 1995 in Saïda, der nördlichsten Stadt des Südlibanons. Der Regisseur wurde hier 1966 geboren. – „HIYA WA HOUA“ (Sie und er) basiert auf einem Nacktphoto der Großmutter des Kairoer Photographen Van Leo, einem 1921 geborenen Armenier, der seit 1924 in Ägypten lebte. – „On Photography, People and Modern Times“ (Modern aus der Sicht von 2012) beschäftigt sich meditativ mit der Frage, wie man private Photos sammelt und registriert. Zaatari bereiste 1997 bis 2000 den Libanon, Jordanien und Ägypten, um Bilder aus Privatsammlungen dem kulturellen Gedächtnis zuzuführen.
Montag, 21. März 18.30 Uhr im Cinéma 2 im Centre Pompidou und Dienstag, 22. März 13.40 Uhr im Petite Salle im Centre Pompidou.
Interessant übrigens, dass in der Ausstellung „Zeit der Unruhe“ auch Menschen vorkommen, die gegen den Bau des Centre Pompidou protestierten, weil er einerseits ihr Viertel plattmachte und anderseits die Kanonisierung der Herrschenden beförderte.

„Akram Zaatari #5“ besteht sogar aus vier Kurzfilmen zwischen 4 und 40 Minuten Länge.
„HADIYEH“, ‚das Geschenk‘, ist der älteste und kürzeste und spielt Mitte der Neunziger an einem Strand, auf der anderen Straßenseite von einem Wohnblock für Wohlhabendere.
2009 drehte Zaatari mit Liliane Giraudon einen Film unter marokkanischer Flagge: „Les Arabes aiment les chats“ (‚Die Araber lieben Katzen‘). In 9 Minuten stellen vier Paare, jeweils ein Dichter und ein Filmemacher, ihre experimentellen Filmgedichte vor. Unter engen Zeitvorgaben holten sich die Künstler ihre Inspirationen unter anderem aus der nordmarokkanischen Küstenstadt Tanger, die am Atlantik fast gegenüber von Gibraltar liegt. Für die „Film-Gedichte“ wurde Texte geschrieben mit den Themen Verlust, Migration, Tradition und Menschlichkeit.

„HOB“ (LOVE, Liebe) entstand 1997 im südwestsyrischen Damaskus. Begleitet von Photograph und Filmemacher Fouad Elkoury besucht Zaatari die berühmten Illustratoren, die die riesigen Transparente von Hafes al-Assad und seinen Söhnen anfertigen, die im Straßenraum an Fassaden und Brandwänden hängen. Gleichzeitig ein Blick auf die syrische Hauptstadt zu Zeiten von Baschar Hafes‘ Vater, vor dem Bürgerkrieg und dem Kampf der von Saudi-Arabien unterstützten sunnitischen Militanten gegen Schiiten und Säkulare.
Aus dem gleichen Jahr stammt der längste Kurzfilm dieses Quartetts: „Majnounak: On Men, Sex and the City, 1997-2016“.
Das Programm wird gezeigt am Dienstag, den 22. 3. um 18.20 im Petite Salle und am Karsamstag, 26. März um 13 Uhr in Kino 1.

Der 6. und vorletzte Teil der Zaatarireihe umfasst auch 4 kurze Filme.
„Al-ilka al-hamra“, ‚das rote Kaugummi‘, ist auch nur eine Kaugummilänge von 10 Minuten lang.

„Tomorrow Everything Will Be Alright“ ist gerade 1 Minute länger und dennoch ein Gruß an Éric Rohmer, in dem es um Liebe, Verlust und Sehnsucht geht. Wie bei Rohmer werden die Einzelheiten des Alltags beachtet. Nicht zu verwechseln mit „Every Thing Will Be Fine“, dem 3D-Spielfilm von Wim Wenders mit Charlotte Gainsbourg und James Franco in den Hauptrollen, der 2015 auf der Berlinale seine Premiere feierte und in Kanada (in Quebec) spielt.

Zum Schluss noch „The End of Time“, 14 Minuten aus dem Jahr 2013 über Verlangen, Liebe und Trennung. Hat nichts zu tun mit Francis Fukuyamas „The End of History“, dem ‚Ende der Geschichte‘ as we know it. Und:
„Dance to the End of Love“, eine 22minütige Installation, zusammengeschnitten aus Material von Leuten, die sich aufnahmen, um online zu sehen zu sein, zum Beispiel mit Gitarre. Synchronisiert in der Choreographie eines Tanzes und für die Leinwand angepasst. „Dokumente“ aus Libyen, Ägypten, den palästinensischen Gebieten, Saudi-Arabien, dem Jemen und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Gezeigt wird sie am 23. März 19 Uhr im Cinéma 2 und Samstag, den 26. März um 15.10 Uhr im Luminor Hôtel de Ville.

Der 7. und finale Teil präsentiert die letzten drei der 18 Filme:
„Al-sharit bikhayr“, ‚All is well on the border‘ oder „An der Grenze ist alles ruhig“ könnte, wenn es bekannt genug würde, ein so geflügeltes Wort werden wie „Im Westen nichts neues“, zudem Grenzen für die Europäer seit den 2014 angeschalteten Flüchtlings- und Migrantenströmen eine andere Bedeutung haben. Das dreiviertelstündige Werk ist eines der frühesten Dokuvideoexperimente des Regisseurs (1997). Der Südlibanon war bis 2000 als Sicherheitszone etwa 20 Jahre lang militärisch besetzt. Das Video bringt Aussagen von Libanesen, die in dieser Zeit in Gefangenschaft gerieten.

„Fi haza al-bayt“, ‚In diesem Haus‘: Frieden in Ain el-Mir. 1985 zog sich die israelische Armee aus dem Dorf zurück. Anschließend wurde das Haus der Familie Dagher von einer radikalen, bewaffneten Widerstandsgruppe besetzt. 1991 schrieb ein Mitglied der Gruppe den Daghers einen Brief, warum sie es besetzt hatten und heißt sie willkommen zurück in ihrem Haus! Ein halbstündiger Film. Der letzte ist „Tabiaah samitah“ ‚Nature Morte‘. – Sreenings am Gründonnerstag 24. März, 16.10 Uhr, und Sonntag 27. März, 21 Uhr im Luminor Hôtel de Ville.

„In Between“ ist eine Festivalsektion, die sich Künstler heraussucht, die an der Schnittstelle von Dokumentation, Spielfilm und Gegenwartskunst wirken. 2015 wurde Shelly Silver aus New York vorgestellt, die auch mit Photos, Film und Video arbeitet.

Akram Zaataris Werk baut sich oft auf Photos aus der arabischen Welt und vor allem aus dem Libanon auf. Ob einem die Filmkunst gefällt, ist wie immer Geschmackssache. Rasha Salti hat hier jedenfalls eine eindrucksvolle Werkschau zusammengestellt; dabei kam ihr bestimmt ihre Herkunft zugute und, dass sie einen Fuß in Beirut hat. ‚Rasha‘ spricht sich übrigens fast wie das englische Wort ‚Russia‘. Sie schreibt, forscht und kuratiert und ist im arabischen, französischen und englischen zuhause.

Dokumentarfilm-Festivals

Vor 38 Jahren gegründet, ist „Cinéma du Réel“ eines der großen Doku-Filmfeste in Frankreich geworden; im französischen Sprachraum wichtig ist auch das von Erika und Moritz des Hadeln 1969 gegründete internationale Festival des Dokumentarfilms „Visions de Réel“ in Nyon (Schweiz) mit über 100 Filmen und etwa 25.000 Gästen. Erwähnenswert sind auch die in den 80ern gegründeten englischsprachigen Festivals in Amsterdam und Yamagata sowie die deutschen in Neubrandenburg und München und, den beiden anderen voran, DOK Leipzig, das bereits seit 1955 existierende Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm mit über 30.000 Besuchern und mehreren Preisen wie der Goldenen Taube.

cinemadureel.org
hkw.de

Anzeige

Vorheriger ArtikelLange wurde der philippinische Film unterschätzt und übersehen – Endspurt für Kidlat-Tahimik-Schau im Berliner Filmhaus, die teils auch in München, Basel, Brüssel und London zu sehen ist
Nächster ArtikelEine kurze Liebe im Zeitalter der europäischen Migrationsbewegung – Annotation zum Roman „Y“ von Jan Böttcher