Raus aus dem Glaskasten. Wie Autisten sich die Welt erobern/ Film

Sport in WOB: Fußball. Plakat am Hauptbahnhof im November 2016. Waren die Ur-Wochenendrebellen da schon unterwegs? Das Plakat mit Fußballbezug ist wie geschaffen für die beiden Filme über die
In Wolfsburg kannst Du was erleben! Neben der "Autostadt" die "Fußballwelt" mit einem schicken, wenn auch nur 30.000 Zuschauer fassenden Stadion. Seit dem Dieselskandal verließ der VfL die Champions-League-Plätze. © Foto: Andreas Hagemoser, 2016

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Erinnern Sie sich noch an die Wochenendrebellen? So nennen sich Vater und Sohn, die erst durch Deutschland und nun durch Europa reisen, um einen Fußballverein zu finden, der für den autistischen Sohn infrage kommt, wenn es darum geht, Fan zu werden. Opa sagte „finde Deinen Verein“ oder „der Verein findet Dich“? Vielleicht wissen Sie es besser, da Sie den Spielfilm „Wochenendrebellen“ schon gesehen haben, der immer wieder in Kinos auftaucht. Hier der Link zum Artikel über den Rebellenfilm. „Raus aus dem Glaskasten – Wie Autisten sich die Welt erobern“ ist eine Dokumentation des Bayerischen Rundfunks (BR).

Zu oft: Ab in die Werkstatt

Falls Sie sie verpasst haben, haben wir was gemeinsam. Doch an diesem Wochenende spielten wir selbst Rebellen und fuhren mit der Bahn durchs Land, ganz wie Mirko und sein Sohn im Film „Wochenendrebellen“ und Jason und Mirko in der Wirklichkeit. (Die Kamera (Stefan Held, Andreas Weiß) begleitet in „Raus aus dem Glaskasten“ u.a. die echten „Rebellen“ auf ihren Fußballreisen.) Dabei lernten wir etwas über „Autismus“. Was das ist? Spannend! Keiner weiß es, obwohl in der vergangenen 10-12 Jahren viel geforscht und ein bisschen herausgefunden wurde. Darunter in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) und in England (GB). Anderswo gibt es Bewerbungstraining für Autisten oder solche, die es nicht mehr so richtig sein wollen. Die Bundesrepublik Deutschland als System zahlt lieber Alimente und rät Eltern dazu, ihre Kinder bei Volljährigkeit in die Werkstatt zu stecken.

Gemeint ist die Behindertenwerkstatt; wo die Arbeitnehmer der „zweiten Arbeitsmarktes“ zu Niedrigstlöhnen zwischen Mindestlohn und Sklavenarbeit tätig sind. Durchaus 40 Stunden die Woche. Angeblich oder tatsächlich hilft es vielen, „ihren Tag zu strukturieren“. Oft brauchen Sie für dieselbe Arbeit mehr Zeit als andere oder ein Roboter. Aber sie sind billiger. Leider bedeutet das nicht immer ein gutes Leben. Wie Beispiele aus Niedersachsen und anderswo zeigen, kann es zu Mobbing innerhalb des Betriebes kommen. Das kann jahrelang so gehen. Die Regel wird das hoffentlich nicht sein, aber die Unterbezahlung ist es. Darunter leidet das Selbstwertgefühl. Leute aus dem Spektrum wissen, dass sie nicht alles können, sie wissen, was ihre Defizite sind und können ihre Stärken wegen falscher Randbedingungen oft nicht ausspielen.

Häufig wirken die Menschen aus dem Spektrum ganz normal – und sind es eigentlich auch. Sie sind nicht behindert und nicht krank. Dazu unten mehr.

Raus aus dem Glaskasten: Die Pförtnerin kann chinesisch – das kommt einem spanisch vor

Im Film „Raus aus dem Glaskasten – Wie Autisten sich die Welt erobern“ begegnet uns eine gutaussehende Frau. Sie ist (im Dokumentarfilm) 44 Jahre alt, lernt chinesisch und – arbeitet nur als Pförtnerin. Solche Schicksale sind nicht selten. Auch wenn Planet Wissen wissen will, bzw. die dort ausführlich sprechende Prof. Dr. Christine Freitag aus Frankfurt am Main, dass hochqualifizierte „Asperger-Autisten“ à la Rain Man (gespielt von Dustin Hoffman), die die Quadratwurzel vielstelliger natürlicher Zahlen innerhalb von Sekunden im Kopf ausrechnen können, aber nicht wissen, wieviel von 2 Mark übrig ist, wenn sie 50 Pfennig ausgegeben haben, eine seltene Minderheit sind.

Doch IT-Spezialisten mit zwei Kindern und zwei Enkeln, die in ihrem eigenen Haus wohnen, das sie nach eigenen Vorstellungen selbst geplant haben – aber Telefonate monatelang aufschieben, die gibt es. Alles sehr spannend! „Raus aus dem Glaskasten – Wie Autisten sich die Welt erobern“ – nicht „die Welt erobern“, sondern „sich die Welt“ erobern. So wie alle normalen Menschen es unbewusst tun. Ein Autist kann in der Regel alles lernen, aber es ist viel Arbeit und da das Spektrum keine Krankheit ist, gibt es keine Heilung.

Was man weiß, ist, das das Elternhaus und die Erziehung keine Schuld tragen.

Wer zu lange hinschaut, hat verloren …

Autisten aus dem Spektrum (unter Autisten sind genau wie bei Obdachlosen mehr Männer; dafür gibt es im Altersheim mehr Frauen) müssen in der Regel länger hinschauen. Da sie viel mehr wahrnehmen als andere, aber nicht so gut filtern können und schon gar nicht automatisch, ist die Blickdauer signifikant länger.

Stellen Sie sich vor, ein Autist schaut eine Frau an. Im Alltag, eine ganz normale Situation. Sagen wir, im Bus oder in der Straßenbahn. Schaut ein normaler oder neurotypischer Mensch, blickt er gleich wieder in eine andere Richtung. Diese gesellschaftlichen Regeln haben normale Menschen schnell gelernt. Schaut ein normaler Mann zu lange, ist eine erste Reaktion Stirnrunzeln. Schnell kann die betrachtete/ kurz angeguckte Frau vor den anderen Fahrgästen lautstark dazu auffordern, das „Starren“ zu unterlassen. Das Glotzen. „Was glotzt du so, du Spanner?!‘

Ein Autist ist aber nicht so schnell. Sein kurzer Blick ist für eine neurotypische Frau zu lang! (Oder umgekehrt ihr Blick für ihn).

Während die Frau meint, signalisieren zu müssen, dass der Blick zu lang ist, hat der Autist gerade erst rübergeguckt. Gefühlt gerade erst. In der Wahrnehmung der (normalen) Frau viel zu lange.

Und Signale versteht ein Autist auch nicht so gut. Direkte, unverklausulierte Ansprache schon besser. Nun folgt ein strafender Blick oder Schlimmeres.

Verstehen Sie nun, warum schon der Alltag für Autisten ein soziales Minenfeld ist und soziale Kontakte selten zustandekommen?

Die Szene ist nicht aus „Raus aus dem Glaskasten“. Aber sie passt.

Dabei sind Depressionen bei Autisten nicht selten. Denn da sie ihr Manko und die Reaktionen – die für sie deutlichen – mitkriegen, sind Menschen für Autisten kräftezehrend.

Lagerarbeiter, Logistiker oder Bibliothekar sind da schon geeignetere Berufe. Bücher und Waren werfen keine unverständlichen Blicke, und Buchtitel oder Warennummern klagen nicht, egal, wie lang man sie betrachtet.

Den richtigen Ton treffen Max Hirschfeld und Odwin von Wurmb

und der Autist, der weiß, dass der eine Skilift einen Halbton höher sirrt.

Wie gesagt, der Film steckt voller Überraschungen. Gut, dass Sie womöglich nicht aus dem Spektrum kommen.

Denn Leute aus dem Spektrum mögen meist keine Überraschungen, sondern Stereotypisches. Andererseits fliegt bei empfundener Langeweile auch schon mal ganz schnell die Karteikarte vom Tisch.

Ohne Freiräume läuft gar nichts. Ein Spektrumsmitglied meint sinngemäß: Ich weiß nicht, ob die Mitglieder Freiräume wünschen. Aber sie brauchen sie. Sie fühlen sich wohl in ihrem Glaskasten, wollen aber auch herausschauen und -treten und sind oft zu erstaunlichen Leistungen in der Lage. Oder mit großer Ausdauer und Geduld bei der Sache. Aber wehe, wenn man sie eine zeitlang am Stück nicht in Ruhe lässt. Stress geht mal, aber ständig?

Der Klappentext

Derr Bayerische Rundfunk schreibt in zwei kurzen Sätzen zum Film „Raus aus dem Glaskasten – Wie Autisten sich die Welt erobern“: „Autisten haben Schwierigkeiten, sich in andere einzufühlen, im Gespräch den richtigen Ton zu treffen. Über sie gibt es viele Klischees.“

Das kann man so stehenlassen. Neben dem Link zu ‚Raus aus dem Glaskasten‘. Muss man aber nicht. Als quasi kurzen Klappentext nicht zu einem Buch, sondern zu einem Film kann man es durchgehen lassen. Mit normalen (neurotypischen) und anormalen (neurountypischen, nicht kranken) Menschen geht es auch manchmal durch. ES GIBT VIELE KLISCHEES. Ja, das auf jeden Fall. Denn jeder ist anders und jede auch, Frauen machen allerdings nur ein Fünftel der Leute aus dem Spektrum aus. Denn es gibt viermal soviele Männer wie Frauen im Spektrum. Außerdem können sie es besser kaschieren, heißt es. Wer chinesisch kann und als Pförtner arbeitet oder an der Kasse – da piept es für viele schon zuviel … und dann noch die vielen Kontakte – tja, der oder die ist – eben … irgendwie anders.

Was nützt es, wenn Autisten als treu und ehrlich gelten, wenn sie sich die Schuhe nicht zubinden können.

Unsere Empfehlung für Februar: „Raus aus dem Glaskasten“

Wir empfehlen diesen Film. Schauen Sie ihn sich an, Sie werden vermutlich überrascht sein.

– Außerdem fügt der Sender hinzu: „Rund 800.000 Menschen in Deutschland leben mit einer sogenannten Autismus-Spektrum-Störung.“ Das hatten wir auch schon in der fast einstündigen „Planet Wissen“-Sendung gehört, die ebenfalls noch in der ARD-Mediathek zu finden ist. Eintritt frei. Die Experten sprechen von einem Prozent der Bevölkerung. So kommt die Zahl zustande. Die Dunkelziffer ist hoch. Die Diagnose schwierig.

Viele Leute aus dem Spektrum wissen nur, dass „mit ihnen etwas nicht stimmt“. Das etwas anders ist als beim Durchschnitt. Das Paradoxe: Der Durchschnitt, Otto Normalverbraucher, will nicht durchschnittlich sein, sondern hervorstechen und müht sich ab. Arbeitet viel um teure Autos zu kaufen, die bequemer oder neuer als die des Nachbarn sind.

Einer aus dem Spektrum bemüht sich mit viel Aufwand darum, normal zu wirken. Und das ist echte Arbeit. Ein Leben lang. Auch im Rentenalter. Es hört nicht auf, nicht nur, weil sich die Welt ständig verändert. Autisten hassen Veränderungen. Aber, wie gesagt: „Wer einen Autisten kennt, kennt einen Autisten.“

Jeder Mensch ist anders.

Sowieso.

Filmografische Angaben/ Filmographische Angaben zu Raus aus dem Glaskasten

Autor: Tom Fleckenstein

Titel: „Raus aus dem Glaskasten – Wie Autisten sich die Welt erobern“

Kamera: Stefan Held, Andreas Weiß (Wie bitte? Stefan hält, Andreas weiß? (Die Kamera oder was?)) Oder Stefan ist der Held, Andreas weiß. Wir bitten Sie um Entschuldigung, wir benehmen uns gerade quasi autistisch.

Ton: Max Hirschfeld und Odwin von Wurmb

Schnitt: Silja Wochele

Dauer: 28 Minuten 36 Sekunden

Gratis online verfügbar: ja

Video verfügbar bis: 10.4.2024 um 18:27 Uhr

Erstsendung ARD: 11.4.2023, Gesundheit! ∙ BR Fernsehen

Rechte: beim BR, 2019. (Was? es gibt Rechte beim BR? Na sowas! Pfui! (Ist das hier Tourette oder Spektrum?))

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