Kaisa war kein Kaiser und Katja kann ihre Muttersprache nicht. Eröffnungsfilm „Kuun metsän Kaisa – Kaisa’s Enchanted Forest“ der Berlinale-Reihe „NATIVe“ mit Vorfilm „Bihttos – Rebel“

Katja Gauriloff, Regisseurin des "NATIVe"-Films "Kuun metsän Kaisa" ("Kaisa's Enchanted Forest"). © 2017, Foto: Andreas Hagemoser

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Am 11.2. um 13 Uhr Cubix 8 am Alex – die zweite und letzte Chance, den Eröffnungsfilm der Reihe zu sehen, die eine Reise in indigenes Kino verspricht (A Journey into Indigenous Cinema). Die ausverkaufte Eröffnungsveranstaltung am späten Freitagabend im Imax setzte am zweiten Berlinaletag den Höhepunkt. Alle Adviser der Reihe, die Kuratorin und die Regisseurin des Langfilms waren an diesem Abend anwesend. Auf der Bühne stellten sich die Berater aus dem arktischen Umfeld vor, der Vorfilm „Bihttos“ begann nicht, wie manche vermutet hatten, um 21 Uhr, wie in den Programmheften angegeben, sondern weit nach 21.30 Uhr.
Leider konnte die Regisseurin des 14 Minuten kurzen Schmuckstücks in dokumentarischer Form nicht anwesend sein. Die Kanadierin Elle-Maija Tailfeathers aus Nunavut machte den kanadisch-norwegischen Film mit dem Herzen. Man mag gar nicht Kurzfilm sagen, soviel gibt das Reenactment mit anderen Elementen her.
„Bihttos“ oder „Rebel“ stammt aus dem Jahr 2014. Anders als Forum, Panorama und Wettbewerb zeigen Retrospektive, Hommage und NATIVe auch alte Filme. Dabei ist „Native“ keine Sektion, sondern „nur“ eine Reihe, die vor zwei Jahren umfangreich gestaltet wurde und 2016 nur auf Sparflamme köchelte.
Der kurze Film zeigte eines der ungewöhnlichsten Liebespaare, die man sich vorstellen kann, einen Sami (Lappen) aus Nordeuropa, der eine unglaublich schöne Blackfoot trifft und vom Fleck weg heiraten möchte. Statt Antrag bringt er es in der animierten Sequenz noch nicht einmal soweit, die Telefonnummer in der Hosentasche zu haben. Alkohol schadet nicht nur der Gesundheit, sondern auch den Beziehungen – selbst wenn sie noch gar nicht zustande gekommen sind. Der Minnewerber ist betrunken, als die Schönheit die Kneipe betritt. Doch der schöne Mann ist auch Rebell und verteidigt die Rechte der Minderheit der Samen, die in Nordnorwegen, Nordfinnland und Nordwestrussland einst ein halbnomadisches Leben führten. Auf einem Treffen indigener Völker in Australien treffen sich die beiden wieder. Er ist oft am Mikrophon und sie verspürt die tiefe Liebe auch, die er empfindet. Letztlich heiraten die beiden und haben zwei Kinder: eine ältere Tochter – die Regisseurin – und einen jüngeren Sohn. Die Mutter besucht die Med School in Norddakota, der Mann pendelt von Norwegen in die USA. Das Mädchen behauptet seinen Platz in einer weißen Mittelschichtschule, indem es Klassenbeste ist. Ihr kleiner Bruder erkämpft sich sein Recht auf dem Schulhof.
Nach dem Umzug nach Kanada endet die Liebe des Paares nicht, doch die Ehefrau verlässt bald die Beziehung. Er umwirbt sie, macht ihr außergewöhnliche Geschenke, betrinkt sich und versucht sich schließlich, das Leben zu nehmen (was nicht „gelingt“).

Muttersprache verboten

Den Grund für die Dunkelheit im Leben ihres Vaters erfährt sie später und verzeiht ihm seine Fehler: in der Boarding School war die Kultur der Lappen offensichtlich verpönt; Sprache und Kultur und Tradition des kleinen Volkes wurden in den Hintergrund gedrängt.

Immer wieder hört man das von den „kleinen“ Völkern, die so klein teils gar nicht sind und doch nur große Nationen groß machen. Das größte Land der Welt ist Rußland – wenn man die ‚Republik Sacha‘ der Jakuten abzöge, wäre das Land schon ein ganzes Stück kleiner. Das zweitgrößte Land, Kanada, hatte im Norden eine Riesenprovinz, die Northwest-Territories. Diese Nordwestterritorien sind seit meiner Schulzeit kleiner geworden, denn im Norden Nordamerikas entstand eine große neue Provinz: „Nunavut“!

Damit nun das Russische, Norwegische und Englische gestärkt werden soll, werden oder wurden die kleinen Sprachen geschwächt. Sie Muttersprachen der „Eingeborenen“. Entweder sind sie verpönt, die Kinder werden von ihren Eltern getrennt oder die Sprache wird gleich ganz verboten, zumindest an der Schule.

Inhaltlich erklärt der Langfilm von Katja Gauriloff das Phänomen für die Lappen, die erst in der Sowjetunion und nach dem finnisch-russischen „Winter“-Krieg in Finnland wohnen. Sie trifft es noch schlimmer als viele andere Kriegsopfer; sie verlieren ihr Land, ihre Tiere, die eine ungeheure Wichtigkeit haben für ihre halbnomadische Lebensweise, ihre Häuser, ihre Heimat, alles. Zunächst sogar ihre Lebensweise.

Regisseurin Katja Gauriloff spricht finnisch, lernte später noch englisch, kann aber ihre Muttersprache nicht. Die Sprache der Sami.

Kaisa, geboren 1885, gestorben 1980, ist die Urgroßmutter der Filmemacherin und ebenfalls eine große Geschichtenerzählerin.

Robert Crottet und sein Lebenswerk

Der Schweizer Autor Robert Crottet besucht sie 1938 und will gar nicht mehr weg, obwohl im langen Winter Tiefsttemperaturen herrschen und der Wind pfeift. Der Zweite Weltkrieg zerstörte an dieser Stelle nicht nur Menschenleben, sondern fast ein ganzes Volk. Unwiederbringlich aber ihre Lebensweise. Nach einem Waffenstillstand werden die Skolt-Sami umgesiedelt nach Westfinnland. Dort haben sie keine Seen zum Fischen, erliegen Krankheiten, die sie vorher in der Kälte nicht kannten. Sie sind orthodoxer Religion und werden aufgrund ihren zweiten Sprache die „Russen“ genannt.

Eine Spendensammlung rettet ein Volk

Robert Crottet gelingt es von London aus, wo er während des Krieges strandete, eine Spendenaktion loszutreten, mit der er letztlich dem Volk als Volk das Leben rettet, auch wenn es heute keine (Halb-)Nomaden mehr sind. Sie siedeln nach Nordfinnland über und erhalten von den Spendengeldern Netze und Rentiere.

Nachdem die Schauspielerin Flora Robson im britischen Rundfunk die Spendenkampagne unterstützt, gehen 5.000 Briefe ein. Gefüllt mit Schecks. Robson hatte einen großen Einfluss. Ihr Aufruf wurde vom BBC verbreitet; das zog, den sie war aus Filmen wie „Katharina die Große“, „Sturmhöhe“, „Malta Story“, „55 Tage in Peking“ und „Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten“ einem breiten Publikum bekannt.

Ein unglaublicher Vorgang, eine unglaubliche Geschichte, von der sogar viele Finnen erst durch den Film erfuhren.

Träume und Gesichte ernstgenommen

Doch eines schlägt dem Fass den Boden aus: Kaisas hellseherische Kräfte, unter anderem durch Träume wirkend, riefen Robert Crottet in den Norden, um das Volk der Skoltlappen zu retten, da sie den Krieg und dessen Folgen vorhersahen.

Unbedingt ansehen.

Teils schlechte Bildqualität alten dokumentarischen Archivmaterials unterstützt eher noch die Beschreibung des Unbeschreiblichen. Kaisa und ihr Volk sind sehr erdverbunden und dadurch auch sehr dem Himmel verbunden, so sehr, dass sie die „Zukunft“ voraussehen und aus der neutralen Schweiz einen Retter herbeirufen, der Kasia wie ein Mutter sieht. Crottet stirbt 1987 nur wenige Jahre nach Kaisa.
Ein Buch über ein Ren(-tier) erscheint während des Krieges in England. Nach dem Krieg erscheint „Enchanted Forest“ auf deutsch, englisch und französisch. Einige Übersetzungen von Crottets Werken können erst viel später in einer skandinavischen Sprache gelesen werden.
Berührend und bewegend und ein weiterer Anlass, dass endlich was unternommen wird, weil alle Kriege endlich verboten gehören.

Bewegt der bewegende Film etwas?

Das ist nur zu hoffen und die Hoffnung … … … Die jungen Skoltlappen wurden 1940 eingezogen und starben auf dem Schlachtfeld. Viele gingen nach der Umsiedlung zugrunde. Die Skolt Sami lebten in einer Gegend mit Nickelvorkommen, die abgebaut werden sollten. Wie so oft trifft der Hunger nach Bodenschätzen kleine Ethnien, die auf großen Flächen leben.
Hier ist es Nickel, in Brasilien Gold, dort Öl. Wir kommen um den Umweltschutz nicht herum.

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