Ich möcht‘ noch ein bisschen leben. Film „Über Leben in Demmin“ von Martin Farkas (Überleben)

Regisseur Martin Farkas bei der Preview des Films
Regisseur Martin Farkas bei der Vorführung seines "Über Leben in Demmin" im Filmkunst 66 in Berlin. © 2018, BU/ Foto: Andreas Hagemoser

Berlin, Deutschland (Kulturexpresso). Das Filmplakat zeigt einen Tätowierten. Demütig beugt sich der Mann aus Demmin vor. Dabei sind furchteinflößende Motive zu sehen. Regisseur Martin Farkas, der am 20. März persönlich zur Berliner Preview ins Filmkunst 66 gekommen ist, erzählt, wie er anfänglich Angst hatte. Unnötig, wie sich herausstellte; heute verbindet ihn eher eine Freundschaft mit dem Bäcker aus Demmin. Einem Familienmenschen wie viele aus dem Film „Über Leben in Demmin“. Einem Mann, der hart arbeitet.

Worum geht es eigentlich in dem Film „Über Leben in Demmin“? Um das Überleben?

Das Filmplakat setzt die beiden ersten Wörter des Titels „Über Leben in Demmin“ um 90° versetzt. ÜBER steht senkrecht, die Buchstaben liegen aufeinander, das „R“ oben. LEBEN ist dann normal gedruckt: Waagerecht. Dadurch gibt es gewollt zwei Lesarten: „Überleben in Demmin“ ist auch denk-und lesbar.

Aufmerksam geworden ist Martin Farkas, ein Mann, der zuhören kann, auf Demmin über die Trauermärsche, die viele zu einfach als „Rechtendemos“ bezeichnen. Diese Märsche, die Gegendemonstrationen und das große Polizeiaufgebot bilden die Klammer des Films.

Doch man könnte diesen Dokumentarfilm nicht drehen, wenn da nicht etwas dran wäre. Wenn es die Trauer nicht gäbe. Wenn es weder Grund noch Anlass gegeben hätte.

Am 30. April 1945 besetzt die Rote Armee Demmin. Die Stadt wurde kampflos übergeben. Wehrmacht und SS hatten die Stadt aufgegeben und die Brücken gesprengt, Straßen- und Eisenbahnbrücken. Demmin liegt mitten im sternförmigen Flusssystem der Peene. Hier im vorpommerschen Tiefland fließen die Peene, Trebel und Tollense zusammen. Die Stadt war voller Flüchtlinge zum Beispiel aus Ostpreußen, aber an eine weitere Flucht war jetzt nicht mehr zu denken.

Teils unklare historische Faktenlage fördert Mythen und Eigeninterpretationen

Bei und nach der Besetzung der Stadt kam es zu Plünderungen, Vergewaltigungen und anderen teils brutalen Verbrechen. Währenddessen und im Vorfeld kam es zu massenhaften Selbstmorden vor allem von Frauen mit ihren Kindern. Viele erhängten sich, andere ertränkten sich und ihre Nachkommen in der Peene und Tollense. Über 600, wahrscheinlich etwa 900 Menschen starben. Jeder 17. Einwohner. Exakte Zahlen gibt es nicht. Dann brannte Demmin drei Tage lang. 80% der Altstadt wurden zerstört. Bis in die 50er Jahre wurden in Trümmern und Ruinen Leichenteile gefunden.

Der Massenfreitod von Demmin ist zahlenmäßig hervorstechend in der deutschen Geschichte. Niemand ist bisher auf die Idee gekommen, einen Zusammenhang mit dem zeitlich synchronen Selbstmord des Reichskanzlers zu sehen. Vielleicht auch deshab, weil der Reichssender Hamburg zwar am 1. Mai den Tod Hitlers am 30. April meldete, aber nicht von einem Selbstmord sprach.

Martin Farkas‘ Interesse ist geweckt und er kommt dann nicht drumherum, der Sache auf den Grund zu gehen. Er wird mehrere Monate in Demmin wohnen und immer wiederkommen. Um zu drehen, mit kleiner und großer Crew, um Veränderungen zu dokumentieren. Und die gibt es, und sie sind interessant. Auch wenn einmal in dem Streifen der Satz: „Demmin ist eine tote Stadt“ fällt. Im Zusammenhang mit zu vielen neuen Supermärkten auf der grünen Wiese, die die Gegend nicht verträgt.

Verödung von Innenstädten ist auch anderswo ein Problem. Landflucht ebenso. Doch hier kommt mehr zusammen. Die Arbeitslosigkeit liegt hier bei 22-24%, einem der höchsten Werte für eine Gemeinde, auch für Mecklenburg-Vorpommern und die ehemalige DDR.

Es scheint gut, dass hier plötzlich Aufmerksamkeit entsteht. Martin Farkas ist quer oder besser gesagt diagonal durch die ganze Republik gereist, von links unten nach rechts oben.

Wann war und ist der Film „Über Leben in Demmin“ im Kino?

Weltpremiere feierte „Überleben in Demmin“, um einmal die Schreibweise zu variieren, auf dem Dokumentarfilmfest „Dok Leipzig“. Vergangenen Mittwoch, am 14. März, gab es eine Vorführung in München.
Die Preview oder Vorvorführung im Filmkunst 66 in Berlin-Charlottenburg in der Bleibtreustraße 12 am Dienstag, den 20. März 2018 war von vielen Gästen besucht, geladenen und zahlenden. Filmcrew und Produzenten; andere Filmemacher, Schauspieler – viele waren anwesend, der größere der beiden Kinosäle brechend voll.

Knut Elstermann moderierte das aufschlussreiche Filmgespräch mit – ganz demokratisch –
Fragen aus dem Publikum („Q&A“).

Der deutschlandweite Kinostart ist am Donnerstag, den 22. März 2018. Gleichzeitig mit dem Filmstart wird es am 22.3.2018 in Demmin (!) eine große Premiere geben. Die Mecklenburg-Vorpommern-Premiere und Demmin-Premiere.

Das wird spannend.

Martin Farkas‘ dritter Film hat schon jetzt etwas verändert. Er hat Arbeitsplätze in der Region geschaffen und Verständnis. Rechte und solche, die es werden wollten, sind im Dialog mit denen, die Rechte haben. Das Recht zuzuhören, den Ball flachzuhalten und Verantwortung zu übernehmen.

Das ist gelungen.

Demmin und Deutschland brauchen nicht in erster Linie Trillerpfeifen. Beide brauchen Verstehen. Mehr Zuhörer als Zuschauer. Geschichte ist geschehen. Es gibt einen Grund für Traurigkeit und Trauer. Ohne ihm auf den Grund zu gehen, kommen wir nicht weiter.

Nicht auf dem flachen Land unweit vom Ostseestrand. Nicht im Allgäu und auch nicht im All.

Und der Film soll fortgesetzt werden. Wir prophezeien: Weiterer Beifall ist gewiss.

Film „Über Leben in Demmin“ : Deutscher Kinostart 22. März 2018

 

www.demmin-film.de

D ok. – Politikvergessen – träumend? „Lost in politics“-Debatte (statt „… in translation“) auf dem Filmfest Dok Leipzig

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